China Rundschau: Dieses Jahr begeht das 45. Jubiläum der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen China und Deutschland. Wie bewerten Sie die bilateralen Beziehungen? Welche Ziele hat Premierminister Li Keqiang bei diesem Deutschland-Besuch?
Shi Mingde: In den letzten 45 Jahren fanden auf der Welt, in Deutschland und in China große Veränderungen statt. Die Welt nach dem Kalten Krieg, Multipolarisierung, Wirtschaftsglobalisierung und gesellschaftliche Informatisierung entwickelte sich schnell. Die internationale Lage hat sich tiefgreifend verändert. Deutschland ist von einem gespaltenen Land zur stärksten vereinten europäischen Großmacht geworden. China, das vor 45 Jahren noch arm und rückständig war, hat sich heute bereits zu einer globalen Großmacht mit großer Verantwortung und zur zweitgrößten Volkswirtschaft entwickelt. In den 45 Jahren wurden die chinesisch-deutschen Beziehungen durch wechselhafte internationale Lagen etlichen Belastungsproben ausgesetzt. Obwohl es Höhen und Tiefen gab, konnte im Großen und Ganzen immer eine Entwicklungrichtung gewahrt werden, die für beide Länder und beide Völker reale Vorteile mit sich brachte und die Entwicklung der chinesisch-europäischen Beziehungen sowie globale Stabilität und Frieden förderte. Es ist nicht bloß ein Name sondern es handelt sich um eine umfassend strategische Partnerschaft, die beiden Seiten großen Nutzen brachte.
Bei diesem Besuch in Deutschland wird Li Keqiang zusammen mit Bundeskanzlerin Merkel das jährliche Treffen der Regierungschefs veranstalten, für welches es mehrere Hintergründe gibt: Erstens ist es das 45. Jubiläum der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen China und Deutschland. Wie ich bereits gesagt habe, erlebten die chinesisch-deutschen Beziehungen viele Höhen und Tiefen, aber im Großen und Ganzen waren sie immer gut und spielten in den chinesisch-europäischen Beziehungen eine führende und stabile Rolle. Zweitens steht Europa vor einer komplexen Situation. Auf der einen Seite ist das Wahlergebnis in Frankreich für Europa von Vorteil, auf der anderen Seite fordern der Brexit, die Flüchlingskrise usw. stetig die Einheit Europas und die Regierungsfähigkeiten innerhalb der EU heraus. Als wichtiger Staat in Europa ist Deutschlands Rolle und Einflusskraft deutlich zu erkennen. Drittens wächst die weltweite Unsicherheit. Den globalen Großmachtbeziehungen stehen Anpassungen gegenüber. Deglobalisierung und Handelsprotektionismus leben auf. Jedes Land muss sich zwischen Öffnung und Isolation, Zusammenarbeit und Konfrontation, Multilateralismus und Unilateralismus entscheiden.
Vor einem solchen Hintergrund ist Li Keqiangs dritter offizieller Besuch in Deutschland ein diplomatisches Großereignis für China, das für die chinesisch-europäischen und chinesisch-deutschen Beziehungen von großer Bedeutung ist.
China Rundschau: In den letzten 10 Jahren haben das gegenseitige politische Vertrauen und die Beziehungen zwischen China und Deutschland substantielle Fortschritte gemacht. Wie bewerten Sie diese Fortschritte? Wie bewerten Sie die wichtige Rolle der hochrangigen wechselseitigen Besuche bei der Förderung der Beziehungen? Wie können China und Deutschland die umfassend strategische Partnerschaft fördern?
Shi Mingde: Der hochrangige Austausch zwischen China und Deutschland ist wirklich sehr eng. Das ist auch nicht erst seit heute so. Früher gab es alle paar Jahre gegenseitige Besuche, jetzt gibt es mehrere Besuche innerhalb eines Jahres. Jeder Besuch fördert substantiell die chinesisch-deutschen Beziehungen. Deutschland wird von allen europäischen Ländern am häufigsten von Chinas Führung besucht. Dieses Jahr, wie auch schon 2014, statten Xi Jinping und Li Keqiang Deutschland innerhalb kurzer Zeit Besuche ab, was eine Seltenheit in der Geschichte der chinesisch-deutschen Beziehungen ist. Bundeskanzlerin Merkel hat in ihrer Amtszeit bereits zehn Mal China besucht, mehr als jedes andere westliche Regierungsoberhaupt. Es gibt engen telefonischen und schriftlichen Kontakt. Die gute Arbeit zwischen den Führungspersonen, die persönlichen Beziehungen, die bemerkenswerte Freundschaft und das gegenseitige Vertrauen wurden bereits zu Garanten für die Entwicklung der Beziehungen beider Länder.
Mit Beginn des neuen Jahrhunderts hat die Positionierung der chinesisch-deutschen Beziehungen innerhalb kurzer Zeit eine grenzüberschreitende Entwicklung realisiert und einen „Dreisprung“ vollzogen. 2004 kündigten beide Länder an, im Rahmen einer umfassenden strategischen Partnerschaft zwischen China und Europa eine Partnerschaft mit globaler Verantwortung zu errichten. 2010 entschieden sich beide Länder, zukünftig eine Partnerschaft von strategischer Tragweite zu errichten. 2014 bauten beide Seiten die zwischenstaatlichen Beziehungen zu einer umfassend strategischen Partnerschaft aus. Die Positionierung von Beziehungen zwischen Staaten ist für die internationale Politik von großer Bedeutung. Oberflächlich betrachtet sind es nur unterschiedliche Bezeichnungen, aber in Wirklichkeit spiegeln sie die Ausweitung und Vertiefung der chinesisch-deutschen Beziehungen wider.
China Rundschau: Gemäß Artikel 15 des „Protokolls über den Beitritt der Volksrepublik China zur WTO“ hätten die WTO-Mitglieder nach dem 11. Dezember 2016 die „Ersatzland-Methode“ bei Anti-Dumpinguntersuchungen gegen China einstellen müssen. Welche Fortschritte haben die EU und Deutschland bei der Erfüllung von Artikel 15 gemacht? Bitte erläutern Sie die Prinzipien und die Position Chinas.
Shi Mingde: Es ist Chinas größte Sorge, ob die EU Artikel 15 des Protokolls erfüllen wird. Die Erfüllung von Artikel 15 ist die internationale Pflicht der EU und Deutschlands, was Einfluss auf den chinesisch-europäischen Handel und die Autorität der WTO hat. Wir stellen fest, dass die EU über eine neue Anti-Dumping-Methode berät. Was für eine Methode das auch sein mag, sie muss wissenschaftlich, gerecht, vernünftig und transparent sein und nicht eine neue Art der Diskriminierung. Während der internationale Freihandel gegenwärtig durch Protektionismus bedroht wird, sollten China und Europa gemeinsam Handelsprotektionismus ablehnen. Vor nicht allzu langer Zeit gab Außenminister Sigmar Gabriel bei dem Treffen mit seinem chinesischen Amtskollegen Wang Yi in China eine positive Stellungnahme zu diesem Thema ab. Er sagte, alle Seiten sollten ihre Pflicht hinsichtlich Artikel 15 erfüllen. Gleichzeitig sollte sich die Überprüfung der entsprechenden Gesetze der EU nicht gegen irgendein Land richten und es diskriminieren, sondern sollte den Bestimmungen der WTO entsprechen. Ich glaube, das ist eine sehr verantwortungsbewusste Haltung der deutschen Bundesregierung. China hofft, dass die EU schnellstmöglich ihre Pflichten hinsichtlich Artikel 15 vollständig erfüllen wird, und wünscht sich, dass Deutschland weiter positiven Einfluss ausübt.
China Rundschau: Das Belt and Road Forum for International Cooperation in Beijing ging vor kurzem zu Ende. Deutschland beteiligte sich aktiv an Chinas „Ein Gürtel, eine Straße“-Initiative. Geographisch betrachtet liegen Deutschland und China an den zwei Enden Eurasiens, die heute wieder durch die neue Seidenstraße miteinander verbunden werden. Zudem setzt man weltweit seine Hoffnungen in den Zusammenschluss von Deutschlands „Industrie 4.0“ und „Made in China 2025“. Welche Möglichkeiten wird diese Entwicklungsstrategie zwischen China und Deutschland für die Zukunft bringen?
Shi Mingde: Wenn China und Deutschland im Rahmen der „Ein Gürtel, eine Straße“-Initiative die Zusammenarbeit verstärken, wird dies viele historische Möglichkeiten bieten. Deutschland ist das größte ausländische Geberland in der Asiatischen Infrastrukturinvestmentbank und die wichtigste europäische Endstation für chinesische Güterzüge. 2016 fuhren insgesamt 1.702 Güterzüge zwischen China und Europa, davon 1.034 zwischen China und Deutschland. Entlang der neuen Seidenstraße gibt es viele Regionen, die dringend einer Entwicklung bedürfen und die enormes Marktpotenzial in sich bergen. China und Deutschland können gemeinsam Drittmärkte erschließen. Zurzeit hat diese Art der Zusammenarbeit bereits einige positive Fortschritte erzielt, wie. z.B. im Bergbau, der Katastrophenvorsorge und –hilfe. Afghanistan half man bei der Ausbildung von Fachkräften und für Dritte bot man Beratungen bei Eisenbahnprojekten, Ausrüstungswartung und weitere Dienstleistungen an, um gemeinsam den internationalen Markt zu erschließen. Ich war stets der Meinung, dass die enge Zusammenarbeit zwischen den weltweit wichtigsten Fertigungsindustriegroßmächten China und Deutschland eine fördernde Rolle bei der Entwicklung der Industrie und bei Innovationen spielen wird. Der Zusammenschluss von „Made in China 2025“ mit Deutschlands „Industrie 4.0“ ist eine neue Unternehmung, bei der es keinen Vorreiter gibt, an den man sich halten könnte, und bei dem es keine Erfahrungen gibt, auf die man sich berufen könnte. Bei der Zusammenarbeit kamen einige Fragen und Zweifel auf. Beide Regierungen müssen die traditionellen Kooperationskonzepte verändern und gemeinsam nach Möglichkeiten für eine erneuerte Kooperation suchen.
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