Mechthild Leutner
Cai, Lin: Vizeleiterin des Leibniz-Konfuzius-Instituts Hannover e.V.
Cai: Wie ist Ihr China-Bezug? Könnten Sie uns Ihre erste Kontaktaufnahme mit China schildern?
Leutner: Im WS 1967/68 habe ich an der Ruhr-Universität Bochum angefangen Sinologie und Geschichte zu studieren, im Januar 1974 kam ich zum ersten Mal nach China. Ich gehörte zur ersten Gruppe von 10 deutschen Austauschstudierenden, die nach der Etablierung der diplomatischen Beziehungen zwischen der BRD und der VRCh in China studierten. Bis Sommer 1974 habe ich am Yuyan Xueyuan chinesische Sprache gelernt, von September 74 bis Februar 75 habe ich an der Beida Neuere Geschichte studiert. Diese Zeit in China war für mich in fachlicher wie persönlicher Hinsicht sehr wichtig und hat die Grundlagen für meine spätere Tätigkeit gelegt.
Cai: Sie haben die China in den letzten 30 Jahren sehr intensiv beobachtet. Wie würden Sie, quasi als Zeitzeugin, die gesellschaftliche und kulturelle Entwicklung China beschreiben?
Leutner: Seit 1974 habe ich intensiv die Entwicklungen in China verfolgt, diese allseitige und rasante Entwicklung Chinas von einem weitgehend agrarisch geprägten Land hin zu einem Industrie- und Hochtechnologie-Land mit ausgezeichneten Hochschulen hätte niemand in den 1970er Jahren vorhersehen können. Vor allem wurde der Lebensstandard des chinesischen Volkes erhöht. Waren Mitte der 70er Jahre noch um die 60% der chinesischen Bevölkerung als arm oder sogar unter dem Existenzminimum lebend zu bezeichnen, so sind es heute nur noch etwa 8-10%. Und es werden gegenwärtig große Anstrengungen unternommen, auch diese Menschen aus der Armut herauszuführen. Die chinesische Bevölkerung hat in den letzten 40 Jahren hart gearbeitet, um ihren Lebensstandard zu erhöhen und kann in allen gesellschaftlichen Bereichen große Fortschritte verzeichnen, auch viel zivilgesellschaftliches Engagement. In kultureller Hinsicht sind die Arbeiten und Leistungen chinesischer Künstler einfach großartig. Mir gefallen auch viele Experimente alte und moderne Kunst und Musik und westliche und chinesische Kunstformen miteinander zu verbinden.
Cai: Einer Ihres Forschungsschwerpunkts ist die Geschichte der deutschen Sinologie. Könnten Sie unserem chinesischen Publikum die Meilensteine dieser Geschichte erläutern?
Leutner: Im Jahre 1830 wurde an der Münchener Universität erstmals eine Veranstaltung zum klassischen chinesischen Schrifttum abgehalten, an der Berliner Universität fanden ab dieser Zeit auch regelmäßig Vorlesungen zu klassischen Texten und zur klassischen Sprache statt. Drei der frühen philologisch und kulturwissenschaftlich ausgerichteten Sinologen, u.a. Friedrich Neumann, der 1830 als erster auch nach China reiste, konnten an den Universitäten nur eine begrenzte Wirkung entfalten, da sie wegen ihrer republikanisch-demokratischen Haltung in der bürgerlichen Revolution 1830/31 und 1848 verfolgt und in der Folge marginalisiert wurden.
Ab 1887 bis 1945 wurde am Seminar für Orientalische Sprachen an der Berliner Universität modernes zeitgenössisches Chinesisch unterrichtet und Vorlesungen zum gegenwärtigen China abgehalten. Carl Arendt war hier als erster Professor bis zu seinem Tode 1902 wesentlich an der Professionalisierung des Faches als einer Regionalwissenschaft beteiligt. An der Leipziger Universität etablierte sich ab den 1880er Jahren ebenfalls eine starke Sinologie, zunächst mit philologischem, später mit kulturwissenschaftlichem Schwerpunkt. Ab 1908 hatte Otto Franke am Hamburger Kolonialinstitut, später Hamburgische Universität, die erste Professur speziell für Sinologie inne. Während seiner Professur an der Berliner Universität, zwischen 1923 und 31, erlebte die Sinologie in Bezug auf die Breite der Themen und Differenzierung des Faches eine Blütezeit. Dies wurde wieder zunichte gemacht durch die Auswirkungen der nationalsozialistischen Diktatur, während der eine Reihe etablierte SinologInnen (u.a. Walter Simon, Eduard Erkes, Gustav Haloun, Erwin Rousselle) und viele jüngere NachwuchswissenschaftlerInnen (u.a. Wolfram Eberhard, Stefan Balazs, Hellmut Wilhelm, Karl-August Wittfogel, Walter Liebenthal) aus rassischen und/oder politischen Gründen verfolgt wurden und emigrieren mussten oder entlassen wurden. Dies bedeutete insgesamt erneut einen Bruch in der Sinologie und zugleich eine große Schwächung des Faches in Deutschland, insbesondere in der BRD, sowohl quantitativ als auch qualitativ, da gerade die jüngeren WissenschaftlerInnen auch innovative Ansätze hatten.
Die Sinologie in der BRD blieb weitgehend textbezogen und auf klassische Texte orientiert. Die Chinawissenschaft als moderne area studies bildete sich allmählich erst wieder ab den späten 1960er Jahren heraus. Bis heute gibt es daher die zwei Linien in der deutschen Sinologie – die klassische philologisch und auf Texte orientierte Sinologie und die wissenschaftliche Beschäftigung mit China als einer modernen Regionalwissenschaft. Die Abwicklung der DDR-Sinologie nach der Vereinigung von BRD und DDR zu Anfang der 1990er Jahre bedeutete erneut einen Bruch in der Sinologie, da hier eine ganze methodisch-theoretische Perspektive – erneut wieder aus politischen Gründen - aus der Wissenschaftslandschaft verbannt wurde.
Cai: Das KI-Freiuniversität Berlin ist als das erste KI in Deutschland vor 11 Jahre gegründet worden. Könnten Sie uns schildern, auf welche Initiative die Gründung erfolgte? Wie entwickelten sich die Aufgaben eines KIs in den letzten 10 Jahren?
Leutner:Die damalige Erziehungsabteilung der chinesischen Botschaft hat mich kontaktiert, ich fand die Initiative sehr gut und wir haben dann gemeinsam mit den Leitungen der Freien Universität und der Peking-Universität, die schon lange, seit 1981, Partneruniversität der FU war, diese Idee in die Praxis umgesetzt. Im April 2006 erfolgte dann die Eröffnung des ersten KI in Deutschland. Wir hatten von Beginn an die Idee, uns auf drei große Bereiche zu stützen: Sprache, Kultur und Wissenschaft. Dieses profil haben wir in den vergangenen Jahren weiter ausgebaut: Im Bereich Sprache sprechen wir mit den am KI entwickelten zusätzlichen Lehrmaterialien und den Weiterbildungsangeboten für Lehrer und Dolmetscher Personen an, die ihrerseits wieder in diesem Bereich tätig sind. Im Bereich Kultur haben wir über Kunstausstellungen hinaus auch eine Reihe eigener Sach-Ausstellungen konzipiert, die auch an anderen KI’s oder Institutionen gezeigt werden. Im Bereich Wissenschaft verstehen wir uns als eine Plattform, wo Austausch und Dialog auch von Spezialisten über viele Fragen des vormodernen und modernen China geführt werden. In allen Bereichen ist die Kooperation mit den KollegInnen der Beida sehr eng und produktiv. Auch mit anderen Institutionen pflegen wir enge Kooperationen, um Synergieeffekte erzielen zu können.
Cai: Wie beurteilen Sie als Direktorin eines KIs die Entwicklung der KIs in Deutschland? Welche Herausforderungen sehen Sie, welche Potenziale und Tendenzen?
Leutner: Die Entwicklung der KIs in Deutschland ist insgesamt positiv. Jedes KI hat entsprechend den lokalen Bedingungen ein eigenständiges Profil entwickelt, welches Programme entsprechend den lokalen Bedürfnissen anbietet. Sosind die Möglichkeiten sehr gut, viel Menschen zu erreichen- ein KI in einer großenStadt oder in einer Universitätsstadt hat ein anderes Publikum als ein KI in einer kleineren Stadt, in der es kaum andere Angebote zu China gibt. Ich begrüße auch sehr die immer mehr wachsende Kooperation der KIs bei Projekten oder auch beim Austausch von Veranstaltungen etc. Es ist wichtig, dass sich darüber hinaus die KIs mit anderen lokalen Organisationen und Institutionen vernetzen, dass sie sozusagen Teil einer lokalen chinabezogenen Kultur- und Wissenschaftsgemeinschaft sind. Ich halte es auch für wichtig, dass die KIsim weitesten Sinne Dialogplattformen über China bieten, über Chinas Geschichte, über kulturelle und gesellschaftliche Entwicklungen. In diesem Sinne können Siedazu beitragen, ein breites Wissen über China zu vermitteln und ein differenziertes China-Bild zu fördern.
Cai: Eine persönliche Frage: Haben Elemente der chinesischen Lebensweise in Ihre alltäglichen Gewohnheiten Einzug gefunden?
Leutner: Sicherlich, das bleibt nicht aus, wenn man/frau ein Verständnis von der Welt als einer multikulturellen Welt hat. Im Austausch natürlich insbesondere mit dem Land, mit dem ich mich schon so lange beschäftige, wo ich viele Freunde und Kollegen habe, ändert man/frau sich selbst. Ich zitieremanchmal Konfuzius’ Spruch von Maß und Mitte, auch Laozis Maxime, die Dinge wachsen zu lassen, bis sie „reif“ sind, also ein wenig eine wu wei- Haltung im daoistischen Sinne. Natürlich esse ich auch gerne Chinesisch und genieße chinesische Kultur, traditionelle Musik, Oper, auch ohne ein fachliches Interesse zu haben, eben ganz persönlich.