Ein Millionär in China ist nichts! Aber Gesundheit alles! Und wie wird man Milliardär? Ganz einfach: Man macht sich die schlechte Umweltsituation in China zunutze! Voilà!
He Tong, Arzt und Milliardär, 63 Jahre
Ich komme morgens um acht Uhr mit dem Flugzeug in Peking an. Das Hotel kann ich noch nicht beziehen. Zu früh. Denken kann ich noch nicht. Zu müde. Und Hunger habe ich auch. Dennoch, der erste Interviewpartner an diesem Tag wartet bereits in wenigen Stunden auf mich. Es reicht gerade noch für eine morgendliche Garküche. Wang Bo, mein Dolmetscher, der mich ausgeschlafen und fröhlich vom Flughafen abgeholt hat und sich wie immer genüsslich am warmen Wasser seiner Thermoskanne labt, -„ah, warmes Wasser ist guuuut!“-, hat die Adresse schon parat und kurze Zeit später sitze ich auch schon schief lächelnd in einer Praxis, die, wie die meisten chinesischen Innenräume, neonbeschienen ist und gebe mir Mühe, das morgendliche Gespräch zu steuern.
Der Mann in diesem Raum, He Tong, ist mein erster reicher Mann auf dieser Reise. He Tong. in dunkelblauem Anzug, eine golden umrandete Brille im runden Gesicht, gut genährt, joviale Gesten, ist ein dicker Fisch: ein Milliardär. Ich reiche ihm meine Visitenkarte. Er reicht mir keine. Er hat gar keine. Stattdessen will er eines gleich mal klären: „Ein Millionär in China ist nichts!“, die Million im heutigen China auch nicht schwer zu erreichen, weil, klar, rechnet man den Millionär der chinesischen Währung in, zum Beispiel, deutsche Währung um, – also eine Million chinesische Yuan geteilt durch etwa sieben -, wird aus dem chinesischen Millionär schnell kein Millionär mehr. Möchte man dennoch zur aufstrebenden Mittelschicht gehören, eine Top-Wohnung bezahlen, eine akzeptable Ehefrau ergattern und am neuen globalen, guten Leben teilhaben, sollte man daher mindestens „ein Zehnmillionen-Millionär“, außerdem in der Lage sein, diesen Level zu halten, noch besser, ihn zu erweitern.
Und dazu kommt, das Wichtigste: „Mit Reichtum muss man umgehen können“, sagt He Tong streng. Da er das selbst offenbar gut kann, trainiert und lehrt er beruflich ehrgeizige Millionäre in intelligentem Geldwachstum. Während die Deutschen also spirituell coachen, coachen die Chinesen kapitalistisch. Sehr gut, denke ich, denn … ich hätte da auch Kapital zu bieten, zwar nur in Form ein paar aufstrebender Zipperlein, - aber immerhin -, schließlich ist He Tong ja auch Arzt, TCM-Arzt … und natürlich brenne ich längst darauf, die ein oder andere patente Diagnose eines brillanten, wie mir versprochen, chinesischen Arztes zu hören. Also? Oder ist He Tong gar kein Arzt? Oder nicht mehr? Ich meine, woher kommt das viele Geld?
Ich bin verwirrt. Schaue Wang Bo fragend an. Schaue He Tong fragend an. „Sie sind doch noch Arzt oder?“ He Tong lächelt und faltet seine Hände ineinander… Es ist so: “Die Milliarden verdiene ich natürlich nicht als Arzt.“ Er lehnt sich auf seinem schwarzen, imposanten Kunstledersessel zurück und schlägt die Beine übereinander: „Die Milliarden verdiene ich mit Nahrungsmittelergänzung.“ Ahhh…! He Tong deutet auf diverse Kisten in seinem Raum. Stimmt. Das Zimmer ist außer mit jeder Menge Familienfotos randvoll mit gestapelten Kisten. Bedauerlicherweise macht sich der Milliardär aber nicht die Mühe, eine dieser Kisten zu öffnen und uns zu zeigen, wie sein Wunder an Geldvermehrung aussieht. Vielleicht später, hoffe ich, vielleicht zum Abschied, und lerne derweil eine sehr goldene chinesische Regel:
„Wer sich in China um das Gesundheitswesen kümmert, besonders um den makromolekularen Bereich, hat keine Geldsorgen mehr.“
So einfach. He Tong weiß das. Viele busy Chinesen wissen das. Nahrungsmittelergänzung ist momentan DER Hit in China und eine kapitale Gelegenheit aus der ebenso kapitalen Umweltverschmutzung erheblichen Profit zu schlagen. Produkte für Kinder, Produkte für Alte, Produkte für Kranke… Die Palette ist endlos. Und auch unbedingt notwendig, versichert He Tong beflissen. „Wir brauchen das in China, denn unsere Nahrung ist nicht mehr gesund.“ Die Produkte seiner Firma, „streng kontrolliert und mithilfe deutscher Technik hergestellt“, wie er betont, enthalten daher lebensnotwendige Zusätze wie Vitalstoffe für Zellen, Pflanzen, Soja, Milch, Vitamine, Mineralien oder Lipoide.
Aber das Allerwichtigste: 1% seines Umsatzes, immer etwa 50 Millionen Yuan im Jahr, stiftet er an 95 sogenannte Hoffnungsschulen in China, Schulen, die sich für die Bildung finanziell benachteiligter Kinder einsetzen. He Tong sagt: „Ich habe nicht damit gerechnet, mit meiner Firma so reich zu werden. Ich hatte nur den Traum, den Kindern zu helfen!“ Das möchte er weiterhin tun, in Zukunft auch noch behinderte Kinder unterstützen. Soweit dazu. Doch sein Hauptanliegen an die Gesellschaft und roter Faden in seinem Leben ist vor allen Dingen die gesundheitliche Prävention. Er sagt: „Als Arzt versuche ich bis heute zu verhindern, dass die Leute ins Krankenhaus gehen.“ Und Arzt ist er tatsächlich schon seit 46 Jahren. Er weiß daher: „Wenn das Chi gut fließt, ist alles gut.“ Nur wann fließt es gut? Geld kann durchaus dabei helfen, sicher. „Es ist zumindest eine Grundlage für das Glück.“ Doch die finanzielle Freiheit muss sich immer in Relation zur zeitlichen Freiheit setzen, mahnt er. Sonst ist es nichts wert. Aber: „Das GRÖSSTE Glück ist immer noch die Gesundheit! Alles andere ist hohl.“
Das steht für He Tong fest und es ist mehr als ein schöner Spruch. „Mit zwanzig habe ich mir den Rücken beim Betonschleppen ruiniert“, erzählt er. Und seine Zeit beim Militär von 1969-1979 als Pilot und später als Leibarzt im militärischen Lager taten an seinem Körper das Übrige. „Ich wollte das Vaterland schützen, ich kämpfte für Mao. Aber ich war sehr überfordert und immer übermüdet.“ Sein Lebensziel war irgendwann nur noch: „Wie kann ich lange leben?“ TROTZDEM. Trotz Strapazen. Trotz angeschlagener Gesundheit. Trotz schlechter Umweltsituation. Und vor allen Dingen mit nur einer halben Lunge. Glück wird dann sehr simpel und reduziert sich auf das Wesentliche. Es ist einfach so: „Man muss immer geschmeidig im Denken und flexibel im Handeln bleiben“ und …He Tong richtet sich auf und verlautet.. „Man kann von mir lernen, dass man sich verändern kann.“ Darauf ist er stolz. Denn diese Einstellung ist es, die ihn zu einem reichen Mann gemacht hat.
Sein Leben sah nämlich nicht immer so rosig reich aus. „Noch 1994 habe ich in einem von der Regierung zugewiesenen zehn Quadratmeter großen Zimmer gewohnt!“, erzählt er. „Doch dann habe ich umgedacht.“ Das war 1995. Statt weiter als Verkäufer auf Provisionsbasis zu schuften, hat er sich mit Aktien an der Neugründung einer Firma beteiligt. Das sei der simple Trick und der Durchbruch gewesen. Seither versteht er, wie das mit dem Geld läuft und seither ist er selbst Chef diverser Firmen. TCM-Arzt ist er aber nebenbei geblieben und als solcher tingelt er hin und wieder als Star seiner Zunft, der aus der Hand liest und gute gesundheitliche Tipps gibt, auf Promipartys umher und zeigt, was er kann.
Einer seiner Freunde und Schützlinge ist Jack Ma, Internetgründer von Ali Baba. „Und reichster Mann Chinas“, wie He Tong anerkennend hinzufügt. Er zeigt uns ein gerahmtes Foto, auf dem sie beide zusammen zu sehen sind. „Aber Jack Ma ist nicht glücklich.“ He Tong wiegt bedenklich den Kopf. „Der Magen. Zu viel Stress und Druck.“ Daher kann He Tong es nicht oft genug sagen: „Die gesunde Lebensweise ist wichtig. Und die richtigen Nahrungsmittel. Außerdem brauchen wir unbedingt eine Leidenschaft, ein großes Herz und Bescheidenheit.“ Für ihn unter Mao sei das damals schwierig gewesen, „meine Möglichkeiten waren begrenzt“, erzählt er bedauernd, aber die Jugend heute, „die kann ihre Träume leben“, findet er.
"Ich dagegen habe meine Träume begraben.“ Zum Beispiel den jugendlichen Traum vom Tischtennisweltmeister. „Und ich war ein guter Spieler.“ Daher, so seine Meinung: „Es ist wichtig, seine Träume schon in der Kindheit zu vollenden.“ Ob er so gesehen den Verlust seiner Träume Mao anträgt?, frage ich. „Nein“, antwortet He Tong gleichmütig. „Mao ist immer noch mein Gott.“ Okay, sage ich. „Aber die vielen Milliarden, sind die mit den Ideen Maos vereinbar?“ „Aber ja“, erwidert He Tong gelassen. „Die Zeiten ändern sich. Das würde Mao heute auch sagen.“
Entspannt thront er zwischen den vielen bunten Familienportraits, drapiert diese beim fotografiert werden noch ein bisschen hübscher um sich herum und zeigt mir immer wieder Fotos von seiner Frau, tippt auf sie und sagt stolz: „Hausfrau!“ Immer wieder: „Hausfrau.“ In dem Moment kommt es mir seltsam vor. Machohaft. Wenn ich jetzt darüber nachdenke, vermute ich, dass er sich insbesondere freut, dass er sie so gut versorgen kann. Denn vermutlich war dies eine ganze Weile nicht so. Dann schaut He Tong endlich auf meine Hände. Und auf meine Ohren. Nur ein kurzer fachmännischer Blick. Darm, Wirbelsäule, Gebärmutter. Die Diagnose ist schnell gestellt. Und er liegt richtig. Ich bin beeindruckt.
Empfehlungen jedoch äußert er nicht. Die Ergänzungsmittel bleiben auch nach wie vor in den Kisten. Schade. Plötzlich auch wird er unruhig. Seine Frau ist aufgetaucht und will ihn abholen. Sie ist resolut und duldet keinen Aufschub. Er erhebt sich und verlässt einfach das Zimmer. Ohne Gruß, ohne Nichts. Ohne Übergang. Interview vorbei. Überrumpelt verlassen wir ebenfalls die neonhelle Praxis, wundern uns, aber wissen nun: Chinesen verabschieden sich nicht immer! Auch nicht die Milliardäre.
Was mir aber nicht aus dem Kopf geht: Wie soll man seine Träume als Kind vollenden?
Simone Harre, 1971 in Freiburg geboren, lebt als zweifache Mutter und prämierte Autorin in Brühl. Als sie 2014 zum ersten Mal nach China reist, erkennt sie, dass sie alles, was sie zuvor über die Volksrepublik gedacht hat, revidieren muss. Sie geht auf die Suche nach dem »wahren« China. Fünf Jahre lang spricht sie mit Chinesen aller Schichten und bekommt einen tiefen und seltenen Einblick in das Leben der Menschen hinter der Kulisse.
https://simoneharre.com/