„Jeden Morgen, wenn ich das Gesicht wasche, sage ich: Das Wasser ist schön. Danach spreche ich mit meinem Spiegelbild und lobe mich.“
Ein Tag mit Yuan Hongxian, 44 Jahre, Weinhändler, Seegurkenmann & Schönes Wasser!
„Oh“, sage ich, „bei meinem ersten Interview mit Yuan ein Jahr zuvor, „guck mal, Bo, wenn man in Yuans Augen schaut, ist es als fiele man in sie hinein.“ Glitzernde Augen vieler Meditationen, schätze ich. Bo nickt. In Wirklichkeit dürfte es ihm reichlich egal sein, was es mit Yuans Augenkraft auf sich hat, er kommt gerade von einer Massage zurück und sieht aus als sei er verprügelt worden. Tapfer versucht er dennoch das Nötigste eines Gespräches zu übersetzen, welches bis zu diesem Zeitpunkt bereits viele Hürden hinter sich genommen hat.
Yuan Hongxian lernten wir zwei Tage zuvor auf einer Willkommens-Party kennen. Er war eingeladen als Repräsentant des traditionellen Chinas, einer, der geübt ein Teezeremoniell durchführt, bald auf große Teeerkundungsreise geht, viel bescheiden und charmant lächelt und vor allen Dingen gerne seinen nach Leder schmeckenden, aber medizinisch sehr gesunden Hirsewein warm und in der bauchig-schlanken Flasche einer roten Frauengestalt präsentiert. Zu diesem Zeitpunkt war bereits ein Interview mit ihm geplant worden. Das und möglicher Weise eine anschließende Fahrt in ein Fischerdorf. Treffpunkt zwei Tagen später, zehn Uhr morgens, und, wenn wir richtig verstehen, in einer Klinik oder so. Ob wir dort auch eine Massage wollen? Wir nicken automatisch und wundern uns.
Zwischen der Willkommensparty und dem Interview mit Yuan liegt jedoch ein feuchtfröhlicher Abend, den ich nicht gut überstehe. Migräne verübelt mir am Tag des Interviews im wahrsten Sinne den Morgen und auch sonst überrascht mich einiges durcheinander. Nicht Yuan erwartet uns vor Ort, es erwarten uns viele. Hochrangige Musiker, Yachtbesitzer, jede Menge Freunde. Vor allem aber ist der ganze Stab eines Unternehmens präsent, das sich in vielen Fotoeinstellungen stolz mit uns präsentiert, als TCM-Klinik vorstellt, deren Teilhaber zu dieser Zeit Yuan noch ist… (ach so!), nach stundenlangem Trubel ins Mittagessen überleitet und sich freut, mich dort mit dem Besitzer des Lokals bekannt zu machen.
Leider aber bin ich die einzige, die dazu nicht mehr in der Lage ist und so übergibt man mich kurzerhand erstmals in die qualifizierten Hände von Xuyuan Hu, einer der Masseure. Dieser bearbeitet mich solange geduldig mit einer Moxa-Behandlung, bis sich das Qi in meinem Körper wieder bemerkbar macht, mich erwärmt, durchströmt, die Übelkeit vertreibt und froh gelaunt, und nun mächtig hungrig, zurück in die Flure der Klinik entlässt. Vom Essen ist man längst zurück gekehrt, doch es ist still, alle sind wieder beschäftigt. Yuan ist ebenfalls da. Er wartet in einem Hinterraum auf das Interview, DAS von heute Morgen und ich warte auf Bo, denn ohne ihn geht gar nichts. Und so warten Yuan und ich gemeinsam ein langes, sprachloses Warten.
Dann endlich, mit dem Sonnenuntergang, kommt Bo aus seiner Behandlung zurück und statt zu entspannen, muss er nun mit mir in Yuans besagte Augen fallen. Entsprechend fragmentarisch nimmt sich diese erste Unterhaltung aus. Und ebenso wirr geht jede Unternehmung mit Yuan von da an weiter. Gerne möchte er meinem Wunsch, das Hafenleben in Qingdao kennenzulernen, weiterhin nachkommen und die Fahrt zum angedachten Fischerdorf am folgenden Tag um zehn Uhr nachholen. Nur leider werden wir dieses niemals erreichen. Oder doch?
Noch glauben wir daran und treffen uns diesmal bei unserem Freund Li Bin, der ein deutsches Restaurant in einer Gründerzeitvilla unterhält. Dort finden wir aber wiederum nicht Yuan, sondern ihn UND neue Andere vor, diesmal auch für Yuan überraschend. Gut gemeint wird dieser Tag auf diese Weise erneut über Stunden in eine andere Richtung gelenkt, zum Beispiel in das deutsche Gefängnis der Stadt, und führt nach dem obligatorischen Mittagessen ganz einfach zu Yuans Feststellung: „Jetzt ist es zu spät für das Fischerdorf.“ Okay… Nein, ich verzweifle nicht. Diese Reise hatte den Plan für jede Flexibilität offen zu sein, einfach mal keine festen Termine zu setzen und wenn das Chaos käme, so käme es eben. Ein Fehler? Mal sehen. Morgen ist ja noch ein Tag…
Zuversichtlich starten wir in den dritten Anlauf, warten das dritte Mal auf den Zehnuhr-Mann. Treffpunkt unser Hotel. Und warten. Doch… es kommen diesmal nicht nur keine anderen, auch Yuan kommt nicht. Keine Ahnung warum. Schlechte Kommunikation? Ein Missverständnis? Wir warten bis elf. Dann fragen wir nach. Yuan antwortet leichthin: „Die Fischer kommen heute nicht.“ Ach ja? Und taucht wieder im Äther ab. Erst Stunden später meldet er sich erneut und bietet unbekümmert seine Begleitung an. Aber die will ich jetzt nicht mehr und fahre mit Bo nach einem Besuch im Aquarium allein zu einem Fischerhafen im Zentrum von Qingdao. Mannomann.
Das war eine Interviewreise im Oktober 2016. Drei vergebliche Versuche eines Ausfluges… und ein halbes Interview. Seitdem weiß ich eine gute Planung wieder zu schätzen und arrangiere ein viertes Mal ein Treffen mit Yuan. Ebenso ein viertes Mal um zehn Uhr morgens. Denn: Neue Reise, neues Glück. Ich bin fest entschlossen, die Endlosschleife zu durchbrechen. Außerdem habe ich diesmal Shasha an meiner Seite. Alles wird gut gehen.
Das Fischerdorf, welches natürlich wieder unser Ziel ist, nimmt sich in meiner Phantasie inzwischen sehr groß und verheißungsvoll aus und gleicht doch eher einer Fatamorgana. Doch, yeah, es geht wirklich alles gut, Yuan trifft uns pünktlich, auch ohne andere, wohl gelaunt und hübsch in ein weißes Hemd gekleidet, packt uns in sein Auto und wir fahren… WIR FAHREN… nur eines stimmt nicht: Es regnet. Es regnet einen fiesen, kalten, strömenden Dauerregen ohne Aussicht auf Besserung. Kann das sein? Immer wieder schaue ich verzweifelt auf die Wetter-App. Yuan lacht. Ihn stört der Regen nicht. „Das sind die Tränen der Zurückgebliebenen!“, erklärt er. „Von gestern Abend. Vom Ahnenfest zu Ehren der Verstorbenen.“ Er spricht nicht viel und er spricht nicht laut, geradezu zart und gemächlich auch steuert er seinen Wagen als streichle er eine Frau. Ich blicke derweil aus dem Fenster ins Nebelgrau, kann keine Ahnen sehen und fröstle.
Yuan oder Weinmann sagen Shasha und ich, wenn wir über ihn reden, eigentlich aber ist sein Vorname Hongxian, doch daran kann ich mich nicht gewöhnen. Meist bleibe ich bei Yuan. Oder ist er Yoda? Yoda aus Krieg der Sterne? Immerhin, wie dieser ist er ausgestattet mit Witz, Sanftmut, innerer Freiheit und entspannter Lebenskunst. Ein Chinese, der Zeit hat, der dem Taoismus und I Ging anhängt, gerne Eckart Tolle liest, sich als Bewahrer der alten chinesischen Traditionen sieht, Seegurken verkauft und Hirsewein nach alter Methode produziert. Ein Chinese, der in zwölfter Generation in Qingdao lebt, größer ist als ich, dünn und lang, (also doch nicht Yoda!), auf gute Kleidung wert legt, modern bis traditionell chinesisch, in einem Haus in den Hügeln über Qingdao wohnt, früh morgens und nach nur vier Stunden gutem Schlaf aufsteht, mit seinem Motorcrosser und Helm auf den Berg hinauf rattert, oben auf einem Felsen in den Sonnenaufgang hinein meditiert, hinunter rattert, Taichi im Yang-Stil macht, Tee trinkt, sein Gesicht wäscht mit den Worten „das Wasser ist schön“, selbst dabei schön wird und irgendwann den Tag beginnt.
Auch Geld verdient, genug Geld, um gut zu leben und genug für ein Höchstmaß an Freiheit zu sorgen. „Ich habe keine Sehnsüchte, keine Sorgen“, sagt Yuan darum lächelnd. Und: „Ich mag alles an mir. Ich spreche jeden Tag mit meinem Spiegelbild und lobe mich.“ Ja. Ach, denke ich…und habe schon wieder vergessen, was ich denke. Neben Yuan wird man still. Und leicht. „Weißt du“, habe ich ihm neulich geschrieben,“ ich habe einen Namen für dich.“ „Welchen?“, fragt er. „Schönes Wasser,“ antworte ich, finde, das klingt hübsch chinesisch blumig. Ein Smiley, das sich totlacht, kommt zurück und: „Das ist wirklich ein schöner Name.“ Allerdings.
Er soll auch Ausdruck darüber geben, dass Yuan für mich der glücklichste Chinese ist, den ich in all den Jahren nach dem Glück befragt und kennengelernt habe und dem es frühzeitig und für mich glaubhaft gelungen ist, aus dem hysterischen, chinesischen Leistungsrad auszusteigen. Wie das kommt? „Mein Vater hat mich nie unter Druck gesetzt“, sagt er. Vielleicht darum. „Ich ging nicht gern zur Schule und ich wollte nach der Highschool auch nicht studieren.“ Der Vater, selbst Lehrer, akzeptierte diese Entscheidung, nicht aber die Neigung Yuans sofort Business zu machen und schickte ihn zur Stärkung seines Charakters zum Militär. Vier Jahre Waffenlager. Danach war Yuan frei und durfte tun, was er schon als Kind gerne tat: Geschäfte. „Wenn vom Gemüseanbau meiner Mutter etwas übrig blieb“, erzählt er, „dann sammelte ich es ein und verkaufte es auf dem Markt.“ Der kleine Yuan. Ein wenig artig, ein wenig frech und immer fröhlich. Das kann ich mir gut vorstellen.
Sein größtes Glück sind bis heute seine Eltern. „Da bin ich ruhig!“, sagt er. „Meine Mutter erzählt gerne alte Geschichten aus der Familie. Vom Leben der Familie damals.“ Er überlegt. „Doch Liebe kommt in den Geschichten nie vor.“ Sein Vater ist letztes Jahr gestorben. Vielleicht begleitet er uns jetzt auf unserem Weg. Ich blicke etwas genauer durch den Nebel zu den Ahnen… Weiß nicht. Auf jeden Fall aber ist er der gute Geist von Yuan. Er hat dafür gesorgt, dass Yuan keine Angst vor nix hat. Wie er das geschafft hat? „Er hat mir das Fahrradfahren beigebracht,“ sagt Yuan. Es war früher sehr teuer und wertvoll, ein eigenes Fahrrad zu haben, darum montierten manche Eltern Stangen an die Fahrräder ihrer Kinder. „Sie befürchteten, dass das Fahrrad beim Üben Schaden nehmen könnte.“ Aber Yuan´s Vater hat das nicht gemacht. Er hat gesagt: „Wenn was passiert, macht nichts, ich repariere das.“ Und dann… „hatte ich keine Angst mehr!“, sagt Yuan. „Das war ein prägendes Erlebnis.“
Es half ihm früh, das Leben positiv und gelassen anzugehen und die Familie als einen Ort von Geborgenheit und Freiheit zu betrachten. Doch das war nicht das einzige, was ihn beeinflusste. „Der Vater meiner Mutter hatte einen Hafen und einen großen Hof gehabt.“ Es wurden traditionelle Dinge hergestellt. Tofu, Hirse und Sojaöl nach alter Methode. „Das hat mir schon als Kind gefallen. Ich wollte das fortführen.“ Gut, nicht gleich. Denn nach dem Militär baute Yuan erstmal einen LKW-Betrieb auf, der Baumaterialien transportierte. Warum auch nicht? Die Stadt war im Aufbruch. Er auch. Im Leben, und besonders in China, kommt man eher auf Umwegen zum Ziel.
So wie wir in diesem Auto, das sich weiter durch den Regen kämpft und ja auch nur VIELLEICHT ein Fischerdorf mit Fischern erreichen wird. Denn: „Die Fischer sind immer noch nicht vom Fang zurück!“, informiert uns Yuan nun mit einem Blick auf sein Handy. Der Regen, die Ebbe… „Das dauert noch.“ Es bleibt Zeit. Und so fahren Bei li de shui, „Schönes Wasser“ (der Name, den ich Yuan gegeben habe) und Xi Meng, „westlicher Traum“, ´(der Name, den man mir im Chinesischen gegeben hat), gen fernes Ziel und machen zuvor einen Stop auf dem einsamen Gelände einer Seegurkenfabrik.
Wir steigen aus. Versuchen es. Das Wasser hat den Boden so überflutet, dass wir kaum gehen können und noch immer stürzt es in Mengen vom Himmel. Was hilft es, dass Yuan später sagen wird: „Das war mein glücklichster Regen!“? Jetzt hüpfen wir in großen Sprüngen zum Eingang jenes Ortes, der Yuan seinen Lebensstil ermöglicht. Die Leute dort verarbeiten seine Seegurken zu fertigen Produkten. Wir ziehen Plastiktüten über unsere Schuhe und grüne Hauben auf unsere Köpfe, gelangen so durch die Hygienebarriere in das Innere der Fabrik.
Yuan bezahlt dafür, dass im hiesigen Betongrau die Maschinen seine Zucht verarbeiten, was, grob gesagt, bedeutet: Die Seegurken werden gekocht, getrocknet und verpackt, und dann als „tanzende Seegurken“, so der Produktname, in hübschen Kästen im Onlinehandel verkauft. Sein Klientel sind diejenigen, die etwas für ihre Gesundheit tun wollen. Fürs Immunsystem, für die Nieren oder gegen Diabetes. Wie Yuans Mutter. Sie nimmt täglich eine Seegurke zu sich. Yuan nicht. „Brauche ich nicht“, sagt er. „Ich bin immer gesund.“
Heute, da wir in unseren grünen Häubchen durch die fast leeren Hallen tapsen, geht die Arbeit geruhsam vor sich. Es gibt nicht viel zu sehen und zu tun. Ein Fließband hier, ein Kochtopf dort, ein paar Trockenkammern und als Endprodukt kleine schrumplige, schwarze, graue oder braune ziemlich zerknitterte, harte Dinger. Die Verarbeitung ist simpel und wenig aufwändig. Taucher bringen Yuan die frischen, wabbligen Seegurken an die Oberfläche. In der Fabrik landen dann 300 Tonnen im Jahr. Yuan kauft noch hinzu. Geerntet wird ausschließlich, was älter als fünf Jahre alt ist.
Nur in der Hauptsaison schickt Yuan manchmal noch eigene Leute hier hin. Die besten Seegurken aber, die großen und älteren, die verarbeitet er selbst und die dürfen dann, statt in den dunklen Trockenkammern der Fabrik, an der frischen Luft, Sonne und Wind ausgesetzt, auf Aktivkohle unter freiem Himmel auf Felsen am Meer lagern. „Obwohl sie eigentlich tot sind“, erklärt er, „reagieren sie noch auf die Außenwirkung der Umwelt.“ Dieser Prozess macht sie kostbarer in der Wirkung. Und das ist ja Yuans Prinzip. Möglichst keine industrielle Fertigung, dafür mehr Qualität. Im Jahr macht er damit einen gehörigen Umsatz und Gewinn.
Meinen Notizen kann ich leider nur noch widersprüchliche Zahlen entnehmen, ist aber auch nicht wichtig, denn in jedem Falle reicht es für ein angenehmes Leben. Sogar dazu, die Produktion des Hirseweins in der Anfangsphase als Nonprofit-Unternehmen durchzuziehen. „Ich bin eher ein Minus-Millionär!“, sagt Yuan darum scherzhaft, auf die Summe seines Vermögens angesprochen. Er produziert oder produzierte auch noch andere Dinge. Sojabohnen, Glasnudeln und das Meereswassertofu, worauf er sogar ein Patent hat. Aber bei Business treibenden Chinesen verlieren sich exakte Informationen irgendwann im bewussten Durcheinander. Wie auch immer, wir verlassen wieder das Grau der Fabrik und kämpfen uns erneut durch die Pfützen.
Die Fischer sind immer noch auf hoher See. Wir fahren dennoch zum Hafen und gehen Mittagessen in einem Fischrestaurant. Im Warten sind wir Meister. Der Ausblick durch die durch Tropfen verhangenen Fensterscheiben auf ein melancholisches Pastellallerlei der verwaschenen, weiten See ist reizvoll. Das Wasser steigt allmählich, die Lieferwagen stehen bereit und dann plötzlich sind sie da, die Schiffe und die Fischer und mit ihnen die frischen Fische.
Wir eilen hinaus mit großen Regenschirmen, verschieben den Hummer auf später, waten durch schlammige Pfützen und gucken, doch… wenn ich ehrlich bin, am Hafen von Qingdao, ein Jahr zuvor mit Bo, gab es mehr zu sehen. Vier Anläufe, eine lange Fahrt und ein wenig Enttäuschung. Doch egal, viel wichtiger als das Ziel ist ja das Unterwegssein. Der Tag mit Yuan. Und der ist schön.
So kehren wir schon ein paar Photos später wieder zurück in den kleinen Raum, wo unser nicht mehr warmes Essen auf uns wartet, greifen endlich nach dem Hummer und sprechen über gute Eigenschaften. „Man muss sich Zeit nehmen einander in die Augen zu sehen“, philosophiert Yuan während er geübt die Bauchschale seines Hummers aufknackt. „Ja!“, erwidere ich, schiele etwas schief zwischen den langen Beißzangen des Hummers hindurch, und kann nicht verhindern, dass mir die Soße desselben die Arme entlang rinnt. Ich weiß, die Sache mit den Augen kann Yuan. Genervt lege ich den Hummer beiseite. Yuan hilft mir und pult das Weiche aus den Zangen heraus.
Andere Leute zeigen ihre Fotos: mein Haus, mein Auto, mein Boot. Yuan erzählt mir von seinen spirituellen Erlebnissen. „Wenn ich meditiere“, sagt er, „habe ich das Gefühl, ich werde durchsichtig!“ Meditieren tu ich nicht, noch nicht, aber ich habe auch erstaunliche Dinge, die ich zum Besten geben kann. Doch eines kann Yuan definitiv besser: Mit den Ohren wackeln. Das sieht sehr lustig aus. Mit konzentriertem Blick lässt er seine Ohren flattern als würde er davon fliegen und verschwinden. Vielleicht ist er wirklich manchmal durchsichtig. Der lange Yoda. Wir schauen aus dem Fenster. Die Fischer halten sich heute nicht lange auf mit dem Fischverkauf. Sie wollen nach Hause. Auch wir wollen weiter.
Wollen aber auf dem Rückweg noch dort Halt machen, wo Yuan momentan seine fertigen Weinfässer lagert. China, wie in allen Dingen, hat in Sachen Wein ordentlich nachgelegt und die billigen Massenweine längst hinter sich gelassen. Traubenwein ist kostbar geworden. Schon Plutarch, ein antiker, griechischer Schriftsteller, sagte: „Wein ist von den Getränken das Nützlichste, von den Arzneien das Süßeste und von den Speisen die Angenehmste.“ Erst durch die Einführung europäischer Reben Ende des 19. Jahrhunderts durch einen chinesischen Diplomaten in Yantai und der Gründung eines ersten Weingutes, kam der Wein nach China. Oder wieder. In der Provinz Henan entdeckte man nämlich in einer jungsteinzeitlichen Ausgrabungsstätte neben einem vergorenen Reis-Honig-Gemisch tatsächlich eine weinähnlichen Substanz aus Trauben.
Nun ist es aber nicht so, dass sich Yuan für den Traubenwein interessiert, sondern für jenes traditionelle Gebräu, das jahrtausendelang den Geistern der Verstorbenen als Opfer dargeboten und ja, natürlich auch getrunken wurde: Der Reiswein, bzw. in Yuans Fall, der Hirsewein. Und dieser ist eigentlich auch viel weniger Wein als Bier, betrachtet man das Herstellungsverfahren. Hefepilz, Zucker, Gärung. Auf jeden Fall aber ist es Yuans ganz besondere Leidenschaft. Er findet:
„Jeder hat eine Aufgabe auf dieser Welt, meine ist die Bewahrung von Tradition.“
Er möchte, dass sein Wein so berühmt wird wie Bier. Mit gutem Grund. Der Wein, manchmal auch „flüssiger Kuchen“ gennant, ist schon aufgrund seines hohen Gehalts an Aminosäuren gesund. Wirkt gegen Krebs und gegen Herz-Kreislauf-Krankheiten. Heißt es. Zwar ist der Markt für dieses Getränk gesättigt, räumt er ein, aber sein Wein ist etwas Besonderes. Auf einer Insel in der Nähe der Stadt hat er einen Keller aus der Qing-Dynastie erworben, wo die optimalen Reifungsprozesse nach herkömmlichem Verfahren stattfinden können. Nicht zu heiß und nicht zu kalt. Der Gärungsprozess dauert 81 Tage. Von Dezember bis März.
Yuan hat einen erfahrenen Doktor eingestellt und hilft in dieser Zeit selbst tatkräftig mit. Gearbeitet wird mit großen Hirsekörnern. „Die haben viel Kleber.“ Durch die Zucht einer alten Pilzkultur und einer besonderen Fermentierung kann Yuan den Alkoholgehalt erheblich unter die Zehn-Prozent-Marke senken. Das Rezept seines Gelbweines kommt vom kaiserlichen Hof aus Nordchina. Ein Meister hat es an ihn übertragen. Yuan möchte es nun, wie ehedem den Tofu, patentieren lassen. Es ist also klar, will man sich abheben und erfolgreich sein, braucht man Geheimwissen.
Solches zu finden, darin ist Yuan Profi. Auch beim Tee. Nach vielen Wanderungen in Yunnan durch die Natur und auf der Suche nach einem Tee, der ihm schmeckt, hat er sich vor Jahren durch seine Geduld das Vertrauen einer Familie erworben. Diese hat ihn daraufhin ein siebenhundert Jahre altes Rezept verraten, das wiederum auf einer besonderen Art der Fermentierung basiert und zu einer bestimmten Produktion einer Teescheibe führt.
Doch die Kunst des Tees ist nur Hobby, Kultur seines Alltags. Der Wein ist ungleich wichtiger und diesen zeigt er uns jetzt, gestapelt in einer Scheune. Ist nicht spektakulär. Die vielen Fässer harren dort für Jahre ihrer Vollkommenheit. Mehr gibt es nicht zu sehen, denn die Produktion findet ja an einem anderen Ort statt. Wir steigen also wieder ins Auto und fahren zurück in die Stadt. Yuan ist nun sehr stumm, müde, und trägt etwas Sorge, dass er mir nichts Besonderes hatte bieten können, was aufregend und anschaulich gewesen wäre.
Aber das stimmt nicht. Er, der Zehn-Uhrmannn, Yoda, Weinmann, Schönes Wasser… hat mir an meinem letzten Tag einer Interviewreise voller widersprüchlicher Gefühle gezeigt, was Glück ist, bzw. ich ihm seines. Nämlich: Sein augenzwinkerndes Einverständnis mit sich selbst, die einfache, stille Selbstliebe. Die hat mich überzeugt. Yuan blickt mich verwundert an. Das ist das Resümee? „Danke, dass ich jetzt meine Definition von Glück kenne.“ Er lacht, nimmt meine Hand und sagt: „Es ist sehr berührend zu spüren, wie dich die Leidenschaft um Chinas Glück bewegt.“
Simone Harre, 1971 in Freiburg geboren, lebt als zweifache Mutter und prämierte Autorin in Brühl. Als sie 2014 zum ersten Mal nach China reist, erkennt sie, dass sie alles, was sie zuvor über die Volksrepublik gedacht hat, revidieren muss. Sie geht auf die Suche nach dem »wahren« China. Fünf Jahre lang spricht sie mit Chinesen aller Schichten und bekommt einen tiefen und seltenen Einblick in das Leben der Menschen hinter der Kulisse.
https://simoneharre.com/