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Lü Chi Cheng, 31 Jahre, der Mann mit dem GYM

发布时间:2020-12-17浏览次数:27

Lü Chi Cheng plagt vor allem eins: „Angst, Leistung bringen zu müssen, Angst, keine Leistung mehr bringen zu können und Angst, dabei die innere Stimme zu verlieren. Er gehört zur jungen Generation der Businessleute, denen China nicht wie der Generation davor eine leere Spielwiese war. Sie müssen sich um ein vielfaches mehr anstrengen und diesen Anstrengungen zuzuhören, kann manchmal schmerzen und demütig machen.


Lü Chi Cheng, 31 Jahre, der Mann mit dem GYM


Lü Chi Cheng fasste Vertrauen zu einem Gespräch aufgrund eines gemeinsamen deutschen Bekannten. „Der ist wie mein Bruder. Ich muss alles tun, was er sagt!“ So ähnlich war seine Begründung und deswegen empfängt er uns nun in seinem Unternehmen. Im GYM. Oder genauer: im GYMBOREE. „Google mal, hatte mein Bekannter gesagt. Ist ganz bekannt. Ich kann es auch nicht genau erklären. Irgendwas mit Kindern. Auf jeden Fall ist mein Freund sehr erfolgreich.“ Ich googelte und sah, ja, hat was mit Erziehung zu tun, ein Franchiseunternehmen, das sich von Amerika aus über die ganze Welt verbreitet hat. Es bietet in über vierzig Ländern und mehr als 700 Mal für Kinder von 0-5 Jahren Play & Music und hat einen Großteil der Neugründungen in China zu verzeichnen. Dreißig Läden soll es alleine in Peking geben. In China ist das Gymboree DER Exportschlager. Die großen Städte sind allmählich gesättigt, nun kann man an die kleineren gehen. Es ist ein großes Land. Das Geld liegt in dieser Hinsicht quasi auf der Straße, denn nichts- sieht man von Erfolg ab - ist den Chinesen wichtiger als ihr Nachwuchs und dessen Bildung. Und so spricht das Konzept ganz leicht all die finanziell potenten und bemühten Eltern an, die es nicht versäumen wollen, auch aus ihrem Kind einen resilienten, zahlungskräftigen, großen Menschen zu machen.

Neuerdings gibt es auch in Deutschland einen Ableger. In München. Den Ursprung nahm die Bewegung 1976 in Kalifornien. Eine besorgte Amerikanerin wollte ihrem Krabbelkind etwas Gutes tun, die geistige und körperliche Entwicklung in einer Eltern-Kind-Gruppe stärken, fand eine solche Gruppe nicht und gründete daher selbst eine. Soweit die Geschichte. Doch wie sieht nun die pädagogische Realität in China aus? Spielende Kinder auf einem Ponyhof, in einem Hinterhofidyll, auf einer wilden Wiese? Natürlich nicht. Fündig werden wir stattdessen in der Nähe des Olympiaparks in einer typischen Mall. Ganz pragmatisch. Gespielt wird dort, wo später einmal geshoppt wird. Und so öffnet sich uns bald ein paar Rolltreppen aufwärts hinter gläsernen Ladentüren das chinesische Kinderwunderland, nein, GYMBOREE , - so kinderfreundlich es kann -, in hellgelb, hellgrün und hellorange. Wir sehen uns um.

Strukturelle Perfektion und frühkindliche Optimierung kommen freundlich, ordentlich und blitzsauber daher. Die Atmosphäre ist liebevoll gedacht und gestaltet, erinnert mich aber eher an eine moderne Kinderzahnarztpraxis. Ich fühle mich hygienisch unbehaglich. Pläne an der Wand. Termine, Bilder. Gestapeltes Spielzeug und Turngeräte an den Wänden. Ein lächelndes Versuchslabor. Irgendwie so. Nur ohne Kinder. Denn heute sind nur wir hier. Wir warten eine Weile, dann kommt Lü Chi Cheng und holt uns ab. Er ist noch sehr jung. Ihn an der Spitze eines Kleinkinderunternehmens zu sehen, irritiert. Als sei er ein Fremdkörper, der diesen Laden auf dem linken Finger führt, aber hauptsächlich woanders wirtschaftet. Was nicht ganz falsch ist. Denn in der Tat ist Lü Chi Cheng vor allem derjenige, der die Fachkräfte einstellt, daneben aber an vielen andern Projekten dran ist, Projekte, von denen er hofft, dass sie ihm als Sohn der Mittelschicht bald den Durchbruch zur oberen finanziellen Elite bringen. Vor allen Dingen will er Investor werden. Er bereitet sich lang schon darauf vor, angelt Vertrauen, schafft Beziehungen. Doch er hat auch einen sehr kleinen Sohn, zwei Jahre alt, um den er sich sehr sorgt, und der in ihm seine eigene, nicht sehr glückliche Kindheit, wachruft. Sehr schnelll sagt er: „Meine Eltern haben das Kind in mir getötet“, und betont dies in immer wieder neuen Varianten. So gesehen ist es auch wieder stimmig, dass er genau hier ist und wirtschaftet. Das Thema ist da. 


Wir nehmen Platz in einem großen Raum... auf dem Boden mit Filterkaffee... in einem der Kinderspielräume, orangener Teppich, orangene Wände, Firmenlogo an der Wand, sonst leer. Doch was geschieht hier, wenn Kinder zugegen sind? Wird getobt, musiziert? Wir fragen. „Nein“, schränkt Lü Chi Cheng ein, „im GYM wird sich mehr um die Eltern gekümmert. Sie sollen lernen, das Kind in seinen kindlichen Fähigkeiten entsprechend seiner Entwicklungsphasen wahrzunehmen und damit richtig umzugehen.“ Er lehnt sich mit dem Rücken an die Wand des Raumes. „Es sind zehn Kinder in einer Gruppe“, erklärt er. „Teamleiter besehen sich beim Spielen das Eltern- und Kindverhalten.“ Die Interaktion. „Und danach erstellen sie eine Diagnose.“ Gibt es verhaltensauffällige Kinder, werden diese zusätzlich außer Haus besehen. So ist das. Wir nicken. 

Das GYM ist also in Wirklichkeit keine Kinderspielgruppe, sondern eher eine Art Frühcoaching durch eine Supernanny, die mit ausgetüftelten Spielvarianten jeden aufkommenden Makel sofort aufspüren und ihn pädagogisch tilgen kann. Für Eltern, die unerfahren, unsicher oder unsensibel im Umgang mit ihren Zöglingen sind, ist das keine schlechte Sache und sicher oft ein Segen. Aber so eine Diagnose impliziert auch festgelegte Verhaltensmuster wie mathematische Gleichungen, setzt eine Norm voraus und verdeckt mit bunten Farben und guten Absichten den untergründigen Wunsch, das Kind möge möglichst früh und effizient ins chinesische Leistungssystem eingegliedert werden. Denn freies Spiel und Phantasie gelten zumeist als Zeitverschwender, Störfaktoren oder gar Gefährder. So wird etwa schon von Erstklässlern zumeist erwartet, dass sie bei Schuleintritt bereits Lesen, Schreiben und Rechnen können. Ja, Unmut tut sich mehr und mehr auf,... aber die Panik, dass das Kind vielleicht nicht mithalten kann, übersteigt bei weitem diesen Unmut. Und bockige Kinder oder Eltern, die Fehler machen? Auch das muss natürlich nicht sein. Außerdem: „Alles vermeidbar!“, findet Lü Chi Cheng. Er betont zwar, dass er keine Fachkraft ist, um das Konzept genauer zu erklären, aber ernst und streng wird er in diesem Moment schon, denn die Erziehungsformel ist simpel und unumstößlich:


Fehlverhalten von Kindern geht einzig auf das Konto der Erwachsenen.“


Das ist ein altes chinesisches Prinzip. Dies Schlechtigkeit des Kindes ist die Schlechtigkeit des Erwachsenen. Und deswegen geht auch Lü Chi Chengs Sohn seit seinem dritten Lebensmonat ins Gym. Man muss wachsam sein. Man kann nie wissen. Aber puh, alles läuft bislang nach Plan. „Mein Sohn lächelt im Schlaf“, sagt er. „Er ist ein fröhliches Kind.“ Und das soll so bleiben. Ohne Druck soll er aufwachsen, „frei nach der Natur. Phantasievoll und kreativ“, sagt er auch. Nicht wie Lü Chi Cheng. Er kann sich gut erinnern, wie sehr die Zeit am liebsten draußen in der Natur gverbracht hat. „Aber in der Schule bin ich oft eingeschlafen.“ Er hat geträumt, an den Nachmittag gedacht, an die Kartoffeln, die er ausgraben, an die Fische, die er fangen würde. Lü Chi Cheng lacht. Etwas bitter. Denn: „Wenn man heute einen Fisch fängt, muss man danach Antibiotika nehmen: Alles ist vergiftet.“ Unsentimental hat man solch unnützen Grünflächen zugunsten von Wohnraum getilgt und ganz nebenbei das Problem mit der Ablenkung gelöst. Und zum Beispiel Malls gebaut. „Jedenfalls war ich zum Leid meiner Eltern nie ein guter Schüler“, fährt er fort. Ich machte alles falsch. Ich genügte nie wie ich war, wurde verglichen und ständig zu Dingen gezwungen, die ich nicht tun wollte.“ Immer hieß es:


Warum kannst du nicht so gut lernen wie deine Cousins? Warum begrüßt du die Tante nicht?“


 Dieses dauernde Herummäkeln und Herausreißen aus seiner kindlichen Welt und Zerstören seiner Neugier hatte zur Folge, dass er sich irgendwann nicht mehr konzentrieren konnte. Glaubt er. Und es wurde nicht besser. Als er später ein Handwerk lernen wollte, verwehrte man ihm dies ebenfalls. Lü Chi Chengs Vater war bei der Regierung und die Mutter in der Gewerkschaft. Man erwartete mehr von ihm. Und so führte der nicht enden wollende Druck dazu, dass er bald statt von Natur von autoritären Strukturen außerhalb zu träumen begann, Strukturen, die ihm seine Männlichkeit bestätigen und ein Gefühl von Selbstwert zurückgeben sollten. Polizei oder Militär, das wäre was. Militär wurde es. Zwei Jahre lang. Hauptsache weg von zu Hause. Ein Aufatmen. Kein Abitur, aber endlich Freiheit. Naja. „Innere Freiheit.“ Für eine Weile. 


Dann kam die Erkenntnis: „Jetzt will ich doch etwas lernen.“ Er versuchte sich zuallererst im Marketing und im Medienbereich, führte Interviews. Doch da in Bezug auf die eigene Wertigkeit frühkindlich ausreichend auf Erfolg und Norm gepolt, begann er vor allem erfolgreiche Unternehmerkonzepte zu studieren. Bildung interessierte ihn auch. Autodidaktisch erklomm er im harten chinesischen Geschäftsleben die Stufen und es gelang ihm fristgerecht mit Fleiß und Gespür fürs Business eine Basis für eine Familie aufzubauen. Das ist schon was. „Mein Frau ist Hausfrau“, kann er heute sagen. „Sie muss nicht arbeiten.“ Darauf ist er stolz. Auch darauf, sich wirtschaftlich um die Zukunft des Sohnes kümmern zu können. Wie sehr die Kinderjahre prägen, er weiß es. Sein Schmerz hat sich in seine größte Angst gewandelt: „Keine Leistung mehr bringen können!“ Was genau so klingt wie sein größter Traum: „Noch mehr Leistung bringen.“ Und geht über in die Basis, die er seinem Sohn schaffen will: „Ihn feinfühlig auf den Leistungsdruck vorbereiten.“ 


Den Raum dafür hat er ihm schon geschaffen. Das Gym. Es ist schon fast komisch, dass ausgerechnet Lü Chi Chengs deutscher Freund seine zwei kleinen Kinder in einem Waldkindergarten untergebracht hat und sehr demonstrativ und völlig unangepasst lebt. „Ich bin assi“, sagt der gerne und provokativ. Vielleicht ist er es auch. Weiter auseinander kann es nicht klaffen. Denn tatsächlich sehen viele Kinder in China zwischen Schule und Elternhaus niemals eine Wiese, streicheln niemals ein Tier und haben dazu auch niemals Zeit. Es gibt zwar vereinzelte Fluchten aus diesen eng gesteckten Bildungskonzepten, auch eine vermeintliche Offenheit gegenüber den Berufswünschen der Kinder, die meisten jedoch bleiben gefangen im selektiven Aufwärtsstreben und gleiten trotz aller vorüber gehender Revolte auf der Spur, die man ihnen beibrachte, weiter. 


Glaub nie den Eltern, wenn sie sagen: Mein Kind darf später einmal machen, was es will“, sagte eine junge Redakteurin mal recht vehement zu mir. „Das ist immer eine Lüge.“ Die Kinder seien von klein an daran gewöhnt, gesagt zu bekommen, was sie tun müssen. „Von den Eltern, von den Lehrern, von der Regierung.“ Und wenigstens sollen sie studieren. Wenigstens etwas, das Geld bringt. Aber das ist nicht schlimm, tut nicht weh, denn: „Die Chinesen sind nicht gewohnt zu tun, was sie wollen.“ Und darum beklagt letztlich auch niemand so richtig die Erziehung. Weder im System, noch in der Familie. Denn Familie ist heilig. Und weil sie heilig ist, so ist trotz des eingangs vernichtenden Urteils über seine Eltern Lü Chi Chengs Resümee: „Meine Eltern haben aus Liebe gehandelt. Ich bin ein Einzelkind. Eigentlich waren sie schon immer stolz auf mich. Damals wusste ich das nur nicht.“


In Deutschland würde man nun vielleicht sagen: Da beißt sich die Katze in den Schwanz. In China heißt es eher: Stell dich nicht so an! Denn: „Bevor du nicht erfolgreich bist, nimmt niemand Rücksicht auf deine Würde.“ Das wiederum ist auch ein Satz, den ich oft höre. Und das Rad dreht sich auf diese Weise immer weiter. Und so denkt auch Lü Chi Cheng heute nicht mehr an kleine, sondern an große, dicke monetäre Fische, manchmal auch an buddhistische Weisheit, aber vor allem will er nun unbedingt eines wissen:„Was ist bloß mit den Deutschen los? Sind die faul? Haben die keinen Ehrgeiz? Warum wollen sie nicht mehr Geld verdienen? Sind die Unternehmen mit ihrem langsameren Streben zufrieden?“ Er versteht das alles nicht. Deutsche Ideale? Wenig Entwicklung? Kritisch gegenüber dem Digitalen? Merkwürdige Einstellung. „Ich definiere mich über Arbeit“, sagt er. Und: „Ich verdiene gerne Geld.“




Simone Harre(西蒙•哈尔)

作者:Simone Harre(西蒙·哈尔),德国人文学者,作家,为报刊撰写人物传记和文章,亦创作小说。她曾在德国和中国分别花费五年时间向人们询问对幸福的定义,并把她2014年以来在中国的访谈在德国结集出版。经她本人授权,“中德人文交流”公众号对访谈集进行选译连载,译文视情况略有删改。本系列图片与视频均由作者提供。


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