... der Bartmann! Einst Millionär und Fachmann der IT-Branche, heute Flötenspieler und Schweinezüchter, einst nur dem Geld hinterher jagend und ein „Rädchen im Getriebe“, heute kein Rädchen mehr, frei von gesellschaftlichen Zwängen und immer beschwingt im Kreis und Leben gehend, eng an der Natur lebend, eng auch am alten China, der geistigen Tiefe auf der Spur, das ist Bartmann. Und will jemand wissen, wie es sich konkret mit dem Glück verhält, nur zu: Bartmann weiß alles... Alles? Alles.
Wie dem auch sei, wir sind da. Unser neues Objekt des Staunens heißt „Hancunhe - schönstes Dorf Chinas“. Und die polternden Ausschüttungen eifriger Erkenntnisse unseres Begleiters nehmen nicht nur ein jähes Ende, sie verkehren sich geradezu grotesk ins Gegenteil.
Hancunhe Modern Village, 40 Kilometer südwestlich im sechsten Kreis von Peking gelegen, ist ein bis ins Kleinste ausgetüfteltes, sozialistisches Musterdorf. Wir steigen aus dem Auto, das Tor zu einem modernen, aber klassisch chinesischen Innenhof öffnet sich und Bartmanns Freund, sowie dessen Eltern begrüßen uns herzlich. Zunächst werden wir ins Haus geführt und bekommen Wasser und das Angebot eines Abendessens, das wir aber dankend ablehnen. Wir möchten gerne, bevor die Sonne ganz untergeht, das Dorf kennenlernen.
Und so machen wir uns freundlich begleitet auf durch gleichförmige, schachbrettartig, farblich jeweils einheitlich angelegte Straßenzüge, welche Heimat von 910 Familien sind. Die ehemals sehr armen Bewohner dieses autarken Dorfes reiben vermutlich noch heute ihre Augen. Sie waren vorwiegend Wanderarbeiter, am untersten Ende der Gesellschaft, doch jetzt und gegen nur wenig Eigenbeteiligung, weil man ihr voriges Haus einfach abgerissen hat, sind sie mit einem Mal glückliche Besitzer moderner Wohnblocks in einer künstlichen Welt mit allem, was an Vergnügungen, Fabriken, bester Infrastruktur und vor allem Arbeitsplätzen -ganz wichtig - dazugehört.
Es gibt Kino, Reisebüro, Hotel, Post, Krankenhaus, Bildungszentrum und Schwimmbad, ein eigenes Rathaus, Shops, Parks und Fitnessgelände. Auf dem Hauptplatz prangt ein großes Museum, das den Neuaufbau des Dorfes minutiös dokumentiert. Dort spazieren wir hin. Herr Tian, Bartmanns Freund, ein sanftmütiger, intelligenter Chinese und Elektrotechniker, Fachgebiet Hochspannung, begleitet uns. Er ist selbst in dem Dorf aufgewachsen und so etwas wie eine Dorfberühmtheit, denn er war der erste Junge, der es als einfaches Kind von Wanderarbeitern an die Senior Highschool geschafft hat. Dafür bekam er sogar eine Auszeichnung. „Wer hier lebt, ist stolz“, sagt er. So oder so. Die meisten haben mitgeholfen beim Bau der Häuser.
Möglich gemacht hat dies ein Immobilienmakler, der selbst aus diesem Dorf stammt und mit viel Engagement und schließlich auch Unterstützung der Regierung sein Heimatdorf in einen sozialistischen Wegweiser für die tatsächliche Zukunft Chinas verwandeln wollte. Als kleine Baugruppe versuchte er bereits Anfang der Achtziger eine neue Straße zu bauen, doch es gab zu viele unterschiedliche Meinungen zu seinem Vorhaben, die zu bündeln ihm nicht gelang. Seine Idee eines Komplettabrisses des ganzen Dorfes dagegen wurde später tatsächlich umgesetzt, ebenso wie der Plan, nicht einfach nur neue Häuser zu bauen, sondern diese in eine Selbstversorgerstruktur einzubetten, denn nur so könne man aus armen Menschen glückliche Menschen mit Arbeit machen. Das klingt logisch und innovativ. Anfang der Neunziger und mit einer Geldspritze von elf Milliarden Yuan war es dann soweit. An die Stelle der abgerissenen Häuser kam jeweils ein Haus von etwa 72 qm. Die Kosten beliefen sich auf 200.000 Yuan pro Bauobjekt und, abgeglichen mit dem Enteignungsgeld, war es praktisch jeder Familie möglich, diese Kosten auch zu tragen und manchmal sogar noch ein paar Quadratmeter draufzulegen.
Heute sind all diese Häuser um ein großes Vielfaches wertvoller. „Und so ist hier jeder ein Millionär“, sagt Herr Tian froh. Die Rechnung des Immobilienhelden, der selbst dabei reich und berühmt wurde, ging auf. Und natürlich, keiner der Einwohner würde wieder so leben wollen wie zuvor. Wenn es also für diese Menschen jetzt überhaupt noch eine Verbesserung geben könnte, dann müssten sie schon in das nicht schönste, sondern das allerschönste Dorf Chinas ziehen, Dorf Nummer Eins. Es findet sich in der Shanxi-Provinz, sieht genauso aus, ist aber weiter entwickelt. „Mehr Wohlstand, mehr Sozialismus.“ Bedeutet: „Keine Mauern. Keine abgeschlossenen Türen.“
Doch auch im Sozialismus sind manche gleicher als andere. Wir durchlaufen eine breite Allee, gesäumt von Gingkobäumen und mächtigen extravaganten Villen, deren bunte Säulen nur ganz ungefähr an Griechenland oder Italien erinnern. Besonders stolz, aber das sehen wir nicht, ist man im Dorf auf das hightech-farming, eine Treibhauskultur, in die man 20 Millionen Yuan gesteckt hat. Wohnen darf hier übrigens nur, wer schon immer da war. Wer doch kommt, muss sich mit dem Wohnen in einer Extrasiedlung in sechststöckigen Wohnhäusern begnügen. Spätestens wenn die Alten sterben, mag sich das ändern. Wir gehen weiter und gucken und staunen. Fühlen uns wie in einer Filmkulisse nach Feierabend. „Nordchina leidet unter Wassermangel“, sagt Herr Tian beim Gehen, und erklärt, dass das Dorf an einem Projekt arbeitet, Wasser aus dem Yangtse in das Dorf zu befördern. Die dazu passende Fabrik, welche die für das Vorhaben nötigen Betonröhren herstellt, gibt es schon.
Als wir das Museum erreichen, wird es gerade geschlossen, aber für uns, nach kurzer Erklärung, wieder geöffnet. Ein bisschen Angeben nach Feierabend ist noch drin. Im Museum durchläuft man mehrere Hallen und kann die stufenweise Entwicklung der neuen Bebauung nachvollziehen. Es gibt auch jede Menge Fotos wichtiger Politiker, des Präsidenten, des Initiators, Trophäen und 3D-Miniaturen. Und es gibt einen Raum, in dem jede einzelne Familie photographisch dokumentiert ist. Vorher, nachher. Altes Haus, neues Haus. Das schweißt zusammen. Im Keller findet sich eine kurze Geschichte der Menschheit von der Steinzeit bis heute und im Nebengebäude kann man einen kleinen Turmaufstieg begehen und auf den wahr gewordenen sozialistischen Traum herab blicken und gerne schwärmen. „Nicht so super!“, findet Bartmann aber. Natürlich. Endlich sagt er wieder was. „Zu luxuriös. Zu wenig Fengshui.“ Aber Herr Tian sieht das anders. Er pfeift auf das Fengshui. „Die Menschen sind wichtiger“, sagt er, „und die haben auch ein Energiefeld.“
Gemeinsam mit den Meinungsverschiedenheiten und einem laut dauerpupsenden Bartmann, was Shasha und mich zu heftigen, pubertären Kicheranfällen verleitet, bummeln wir weiter gen Vergnügungsmeile. Vor uns entfaltet sich ein Park im Stile des Pekinger Sommerpalastes. Nur etwas kleiner, grauer und einsamer. Was aber der Sommerpalast nicht hat: Ein riesiges Flugzeug, museale Verteidigungsschießstände und einen ausgedienten Panzer. Bartmann und ich besteigen alles. Wenn schon, denn schon. Ich krieche sogar in den kalten, grauen Panzer hinein. Bartmann hilft und macht Fotos. Nun ja. Während wir weiter an einer breit flächigen Fitnessanlage vorbei schlendern sagt er: „Du musst unbedingt die Frau von Herrn Tian kennenlernen.“ „Warum?“ „Sie weiß, was Glück ist.“ „Okay, gut…!“
Inzwischen ist es sehr dunkel. Das bleierne Grau hat wohltuend die Grenzen zwischen Sozialismus und Kapitalismus verwischt und mahnt nun an das Elementarste in China: Essen! Herr Tian möchte uns zu Fischkopf einladen, eine hiesige Spezialität. Eben noch Auge in Auge mit den verendeten Fischen, die im trüben Uferschaum schwappen, weiß ich nicht, ob das eine gute Idee ist, aber Hunger habe ich schon. Wir gehen also und verlassen das gespenstische Dorf. Aber um auch etwas Gutes zu sagen: Die Luft ist besser als in der Innenstadt von Peking, natürlich, und der Autoverkehr auf den sehr breiten Straßen praktisch nicht vorhanden. Die Kinder können auf der Straße spielen. Können. Ich weiß nicht, gibt es welche? Friedlich eingeschläfert und vage glücklich gemacht von der sozialistischen Gleichheitsformel dümpeln die Dorfbewohner vermutlich gerade vor einem ihrer großen Flachbildschirme.
Sie haben jetzt alles, was sie zurück in die Gesellschaft gebracht hat oder was sie, wie Bartmann vielleicht sagen würde, geködert mit Wohlstand, zum Teil des Getriebes gemacht hat. Freundlich gefügiges modern village, Zukunft Chinas. Unersetzlich ersetzlich. Ich muss an die Fische im Teich denken und will weg. Gut, dass ich gleich eine Frau treffe, die weiß wie Glück geht. Wir steigen wieder ins Auto. Gegessen wird außerhalb. Das ist gut. Shasha und ich sitzen auf dem Rücksitz. Shasha sagt anerkennend: „Ich finde Herrn Tian sehr nett. Er hat viel Respekt vor seiner Frau. Und er ist liebevoll zu seinen Eltern.“ Das punktet enorm, kommt nicht oft vor und ist in Anbetracht der Scheidungsrate, die uns in den Interviews der letzten Tage um die Ohren flog, wohltuend. Kurz vorm Ziel hält Herr Tian sein Auto an, die Tür des Rücksitzes öffnet sich und seine glückliche Ehefrau, Frau Wang, steigt hinzu. Ich sage „Nihao!“, sie sagt: „Oh, die Deutsche kann aber gut Chinesisch!“ und setzt sich froh gelaunt zu uns.
Das Restaurant, das wir besuchen, ist lärmender als die Straße. Und auch die Unterhaltung an unserem Tisch ist lebhaft. Ich glaube, Bartmann war etwas voreilig in seiner Annahme, dass Frau Wang die ultimative Glücksexpertin sei. Jetzt gerade jedenfalls findet er es ausgesprochen ungenügend, wenn sie behauptet, sie brauche zu ihrem Leben nach dem Dienst an der Schule nicht mehr als ihren kleinen Feierabend, an dem sie überdies noch nicht einmal irgendetwas Besonderes tue außer allenfalls ihren Mann lieben. Zu profan. Zeitverschwendung. Sie kontert. „Kümmere du dich erstmal richtig um deinen Sohn.“ Damit trifft sie einen Schwachpunkt. Für sie ist Bartmanns proklamiertes und philosophisch unterwandertes „I am free“ verantwortungslos und ohne Reiz. Nicht praktikabel für eine Gesellschaft. Zu ichbezogen. Es geht hoch her zwischen den beiden. Frau Wang erweist sich als überzeugte Sozialistin und steht voll hinter dem Kurs von oben, Bartmann ist der Erkenntnistheoretiker. Während Frau Wang lebhaft mit den Stäbchen im gewaltigen Fischkopf stochert, sagt sie:
„Es weiß doch jeder, dass der momentane Kapitalismus nur ein notwendiger Umweg zum totalen Sozialismus ist.“
... Und da niemand antwortet, schaut sie uns staunend an. „Oder etwa nicht?“ Das empört Bartmann. Er hält dagegen: „Die Regierung benimmt sich wie der liebe Gott.“ Was für ein gewagter Satz! An einem Esstisch! Es ist, als streite das altchinesisch verspielte Museumsdorf mit dem sozialistisch gleichförmigen Musterdorf. Herr Tian ist gemäßigter. Er ist Buddhist, gibt zu bedenken: „Auch äußere Faktoren wie eine Gehaltserhöhung können durchaus das Gefühl von Glück herbeiführen.“ Er sagt aber auch: „Am glücklichsten bin ich jedoch, wenn ich jemandem helfen kann!“ Man wird sich nicht einig. Und sollte ich gedacht haben, dies hier sei ein Restaurant in Freiheit, also außerhalb des Musterdorfes… stimmt nicht. Es gehört der gleichen Baufirma, welche das Dorf verantwortet und aufgebaut hat. Der Sozialismus, das ist das besondere an ihm, hat unsichtbare Octopusarme. Und damit diese hier bald noch länger werden können, wird das Restaurant in absehbarer Zeit am Ende der modernsten Bahnstrecke Chinas liegen. Selbstfahrend, vollelektronisch. Endstation totale Glückseligkeit.
„Im Buddhismus soll jedes Jahr ein anderer Buddha führend sein“, versucht es Herr Tian wieder, um die Runde zu mäßigen, „zur Zeit ist es der Milo-Buddha!“ Und das ist super, denn der ist dick und isst lieber, statt zu diskutieren. Das sollen wir jetzt auch. Gewöhnlich wird mir in solchen Momenten gesagt, Buddha habe heute Geburtstag, deswegen müsse man essen, aber so geht es natürlich auch. Und so werden Museumsdorf und Musterdorf ganz einfach weggekaut. Essen tun alle gern. „How is your feeling?“, fragt mich Bartmann darum schmatzend. „Great!“, sage ich, grinse, ziehe an seinem Flaum und habe ihn lieb. Irgendwie. Herr Gu Shusheng. Ein kleiner Junge auf der Suche nach dem großen Glück.
Simone Harre, 1971 in Freiburg geboren, lebt als zweifache Mutter und prämierte Autorin in Brühl. Als sie 2014 zum ersten Mal nach China reist, erkennt sie, dass sie alles, was sie zuvor über die Volksrepublik gedacht hat, revidieren muss. Sie geht auf die Suche nach dem »wahren« China. Fünf Jahre lang spricht sie mit Chinesen aller Schichten und bekommt einen tiefen und seltenen Einblick in das Leben der Menschen hinter der Kulisse.
https://simoneharre.com/
Inzwischen gibt sie auch Glückskurse unter der Webseite: www.simoneharre-Glückshelden.de