Sie sind über achtzig, stehen seit 75 Jahren auf der Bühne und singen die Peking-Oper. Meistens gemeinsam. Es gab sie bereits vor Mao. Und nach Mao wieder! Ein Glück, denn: Damit war nicht zu rechnen gewesen!
Im Garten unseres Hotels in Qingdao begrüßen wir ein ganz besonderes Paar. Wang Xiping, die Dame und Wang Junheng, der Herr. Ich denke, es ist uns Deutschen nicht so sehr bewusst, wie besonders die beiden sind. Aber vielleicht wäre es auch den jungen Chinesen, in deren Ohren vornehmlich chinesischer Schlagerpop walzt, nicht so bewusst. Das hübsche alte Paar, das wir also heute in der Nachmittagssonne interviewen dürfen, sind zwei sehr alte Stars der chinesischen Peking-Oper.
Beide sind schon 82 Jahre alt, was man ihnen, ehrlich, nicht ansieht. Ehrwürdig, stolz, adrett und doch klassisch chinesisch bescheiden treten sie uns entgegen. Beide sind sehr höflich, sie eher vornehm und wortführend, er eher zurückhaltend, aber von geselliger Natur. Da sie beide von hoher Prominenz sind, sind sie allerdings etwas unsicher. Sie wissen nicht recht, ob sie uns trauen können. Aber gut, sie sind da und versuchen meine Fragen zu beantworten.
Xiping und Junheng nennen sich staatliche Schauspieler der ersten Klasse oder auch Stars der ersten Stunde und stehen fast ihr ganzes Leben auf der Bühne. Junheng begann seine Karriere sogar schon mit neun Jahren und hat niemals etwas anderes gemacht, noch gewollt. Es gab nur eine einzige Unterbrechung in ihrer beider Bühnenpräsenz. Das war die Zeit unter Mao. In der Kulturrevolution. Kunst war weiträumig verboten und die paar wenigen Pekingopern, die gespielt werden durften, reduzierten sich auf propagandistische Themen und sozialistische Kleidung.
Aus Angst davor als Künstler aufs Land verschickt zu werden, zog sich das alte Paar, damals noch jung, darum still und leise zurück in die Privatheit. Sie machten einfach ein paar Kinder. Sie wussten, Familien mit Kindern wurden nicht verschickt. Der Plan ging auf: Zwei Söhne und eine Tochter kamen in rascher Folge auf die Welt. Die Familie blieb zusammen. Außerdem schrieben sie im stillen Kämmerl ein Theaterstücke.
„Wenn wir nicht ein Leben auf der Bühne gehabt hätten, wären wir wohl Schriftsteller geworden“, mutmaßt Xiping heute. Erst 1979, mit knapp vierzig, durften sie dann wiederspielen. „Wir hatten wirklich Glück gehabt“, finden sie, denn damit, in ihrem Alter, war nicht zu rechnen gewesen.
Xiping kommt aus reichem, aber, wie sie betont, tolerantem Elternhaus. Junheng stammt aus armen Verhältnissen. Auf der Bühne haben sie gemeinsam schon Liebespaare gespielt, bevor sie sich selbst ineinander verliebten. Seine Stimmlage wechselte im Laufes eines Lebens von der Stimme eines alten Mannes hin zur Stimme eines jungen Gelehrten. Da ihre Karriere bereits in der Zeit vor Mao lag, bekommen sie heute Rente. Was wiederum ein wahres Glück ist. Nachfolgende Sängergenerationen können davon nur träumen. Sie bekommen nämlich nichts. „Wir sind sehr dankbar um unsere Situation“, sagt Xiping darum.
„Wir sehen auch die Flüchtlinge in der Welt. Uns geht es gut.“
Sie können einen gewissen Wohlstand genießen, führen aber ein sparsames Leben. Im Sommer in Qingdao, im Winter in Xi´an. Sie unterrichten noch immer Schüler in Qingdao und haben Gastprofessuren in Shanghai. Ihre Gesundheit und ihre Stimmen sind dank guter Pflege und strenger Disziplin weiterhin in Topform. Und so freuen sie sich noch heute darüber, wenn das Publikum applaudiert. Besonders bei großen Aufführungen, vor ranghohen Funktionären.
„Und die Kinder?“, frage ich. Sie schütteln den Kopf. „Nein, unsere Kinder haben unsere Neigung nicht geerbt.“ Sie haben andere Berufe. Ein Sohn ist sogar Schiedsrichter bei Boxkämpfen. Xiping und Junheng sehen das nüchtern. „Die Zeiten ändern sich“, sagen sie. Das ist okay. Außerdem ist die Pekingoper ja ganz allgemein aus der Mode gekommen. Da kann man nichts machen.
Was man machen kann: Auf ein gemeinsames, erfülltes Leben zurück blicken. Eine verbindende Leidenschaft und eine immer gute Ehe. „Wir hatten keine Konflikte!“, sagt Xiping und lächelt mädchenhaft. „Wir sind gleich berechtigt!“ Was zum Beispielmeint: „Mein Mann schnippelt. Ich koche.“ Und: „Wir legen viel Wert auf Tugend und Moral und wir äußern keine bösen Worte.“ Über ihn sagt sie: „Er hat keine schlechten Angewohnheiten.“ Über sie sagt er: „Sie hat einen klaren Charakter, ist stark und großzügig.“ Würde Junheng sich eine Blume aussuchen, so möchte er eine Winterkirsche sein. „Stark gegen außen.“ Xiping ganz ähnlich. „Eine Rose mit Stacheln. Zum Schutz.“
Schutzlos jedoch unter den Ohren der deutschen Banausen und sehr liebenswürdig geben sie uns zum Schluss im Schatten eines Baumes einen kleinen Einblick in ihre Gesangskunst. Ich hoffe, sie ahnen nicht, dass für all die Menschen, denen das Subjekt Pekingoper und die chinesische Kultur fremd ist, sich der Gesang wie schlecht geölte Motoren anhört. Wir jedenfalls haben applaudiert.
Simone Harre, 1971 in Freiburg geboren, lebt als zweifache Mutter und prämierte Autorin in Brühl. Als sie 2014 zum ersten Mal nach China reist, erkennt sie, dass sie alles, was sie zuvor über die Volksrepublik gedacht hat, revidieren muss. Sie geht auf die Suche nach dem »wahren« China. Fünf Jahre lang spricht sie mit Chinesen aller Schichten und bekommt einen tiefen und seltenen Einblick in das Leben der Menschen hinter der Kulisse.
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Inzwischen gibt sie auch Glückskurse unter der Webseite: www.simoneharre-Glückshelden.de