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Zhou Sheng, 38 Jahre, Maurer | China wer bist du

发布时间:2021-05-13浏览次数:23

Am ärmsten Ort, den wir besuchen, finden wir das größte Glück. Ein frohes, liebevolles Miteinander, das über das Pragmatische hinaus geht. Aufgeschlossen und heiter.

  

  

An diesem Tag sind wir mit dem Auto an der Westküste des Erhai-Sees unterwegs. Verkehrsblockaden versperren uns den Weg diverse lang gehegte Ziele zu erreichen und ein akut verdorbener Magen lässt über dies die Kraft für andere Pläne schwinden. Aber zu Hause bleiben ist auch doof und so entscheiden wir uns für eine nur kleine Tour zum Cangshan Mountain. Der ist erreichbar und soll ganz toll und urtümlich sein. Mit Klöstern, sogar einem Frauenkloster und so…

  

Möglich, dass es ganz toll ist in den Wäldern des Gebirges zu wandern und auch die Klöster, zu denen man einen langen Fußweg zurücklegen müsste,- wozu wir an diesem Tag aber nicht in der Lage sind-, doch die Tempelanlage, die wir an der Bergspitze mit überteuerter Seilbahn besuchen, ist es nicht. Es ist touristisch und seelenlos. Der Wasserfall und die Grotten vor Ort können das nicht ändern. Und die touristischen Momente, kleine arrangierte Fotoplattformen gegen Geld, dressierte Äffchen und Pfaue für ein Fotoshooting etc. tun das Übrige. Wir sind enttäuscht. Schnell wieder weg.

  

Nur wohin? Einfach mal fahren, wie so oft… Verdrossen sitzen wir im Wagen, fixieren das Umland, scannen die Landschaft nach visuellen Reizpunkten ab und rufen irgendwann laut STOOOPPP! Lasst es uns mal hier versuchen! Wir verlassen die Landstraße und fahren in Richtung Berge. Sind in Panqu. Doch: Oh welch Glück und wundersame Wendung! Wer hätte wissen können, dass dieser Ort einer unserer schönsten Begegnungen im Land bereithalten würde. Ganz unverhofft.

  

  

© unsplash

 

Wir steigen aus, gucken uns um und schon von Weitem sehen wir ein langbeiniges Weiblein am Eingang des Dorfes auf einem Bänklein hocken. Aber nein…. oh, es ist gar keine Frau. Beim Näherkommen bemerken wir mit Erstaunen: Dort hockt ein vergnügtes Männlein mit tadellosem nacktem Beinwerk und frischem Geist, gerade damit beschäftigt ein Buch zu lesen. Der alte Mann ist sehr gesprächig, möchte ganz viel erzählen, doch Bo versteht nur Bruchstücke.

Immerhin erfahren wir: Er ist Lehrer gewesen, hat fünf Söhne, kocht immer selbst und nur gesunde Sachen. Auch seine Frau kocht. Denn: „Was man selbst macht, schmeckt gut.“ Der erste Sohn arbeitet in einer Fabrik und verdient im Monat 9000 Yuan. Bo wundert sich über diese Summe, findet es viel für einen Menschen aus diesem Dorf und weiß nicht recht, ob das stimmt.

  

Aber der Alte nuschelt sehr durch seine wenig verbliebenen Zähne und spricht überdies einen schwer zu verstehenden Orstdialekt. „Früher konnte ich noch Hochchinesisch“, sagt der alte Mann darum, „jetzt nicht mehr!“ Immer wieder auch erzählt er etwas von Lohnsummen in den USA und von Obama und schmeißt dabei temperamentvoll seine Arme in die Höhe. Er trägt ein hellblaues Hemd, das schon bessere Tage hatte und eine beige Kappe auf dem Kopf. Das Buch, das er gerade liest, ist von einem Intellektuellen aus den vierziger Jahren.

  

Während er erzählt, gesellt sich freundlich lächelnd ein hübscher junger Mann mit rabenschwarz gewelltem Haar zu uns und hört aufmerksam zu. Eine willkommene Abwechslung am Feierabend. Als wir den Alten bitten, in mein Reisebuch zu schreiben, blättert er sorgfältig durch die Seiten, liest, was die anderen geschrieben haben, überlegt dann genau und schreibt sehr behutsam einen langenphilosophischen Text.

  

Der junge Mann, der Zhou Sheng heißt, der sich stumm zu uns gesellt hat, dabei zusieht, ist nicht nur neugierig, sondern auch sehr lieb. Er lädt uns für später abends zu sich und zum Essen ein. Wir nehmen an und lassen uns bis dahin durch Raum und Zeit eines fast unwirklichen Chinas treiben. Sehen uralte dünne Frauen so langsam durch Gassen schleichen, als würde man sie in Slow-Motion filmen. Sehen alte Männer an Straßenrändern hocken, schwatzend oder ihre kleinen Enkelkinder bewachend. Gehen vorbei an blutigen Tischen, auf denen die letzten Reste frischen Fleischeslagern. Gucken in Innenhöfe, wo in kleinen eisernen Öfen Mais verbrannt wird, um damit zu kochen. Sehen Männer Majong spielen, dicke Bullen auf den Äckern Pflüge ziehen und Bauern ihre Felder von Hand mit Dünger versehen, den Kanister mit Gift auf dem Rücken. Die Zeit vergeht unendlich langsam.

  

Später am Nachmittag machen wir uns auf, das Haus zu suchen, das uns Zhou Sheng beschrieb. Einziges Mitbringsel eine Flasche Schnaps. Etwas anderes konnten wir nicht auftreiben. Als wir das Haus finden, öffnet sich uns ein erbärmliches Bild eines aufgeweichten, dreckigen, sehr armen Innenhofes. Der Boden ist voll mit Hühnerdreck der umherlaufenden, gackernden Hühner. Ein steinalte chinesisches Paar bewegt sich im Hintergrund in Zeitlupe.

  

 

Dieser Hof und dieses brüchige, herunter gekommene chinesische Zuhause, das jeder Windhauch sofort zu Staub blasen könnte, übertrifft alles, was wir bisher gesehen haben. Von Moderne, fließend Wasser, wachsendem Wohlstand... keine Spur. Aber halt, nicht ganz. Denn seitlich des Innenhofes und abgesetzt von dem alten Haus, das gar nicht so alt ist wie es wirkt, steht ein nagelneuer Wohnrohling. Offenbar hat auch Zhou Sheng allmählich Mittel, das zu tun, was alle auf dem Land machen, wenn sie ein bisschen Geld zusammenkratzen: das eigene Haus bauen.

Zhou Sheng freut sich, dass wir tatsächlich da sind und bittet uns im Innenhof auf Höckerchen Platz zu nehmen. Er selbst setzt sich auf die Treppe des Hausrohlings, den erseit einem Jahr mit seiner Familie spärlich bewohnt und sagt, seine Frau, die in Dali als Zimmermädchen arbeitet, ist gerade dabei Fisch für unser Abendessen zu kaufen und die geistig behinderte Schwiegermutter unterwegs, um die ältere Tochter von der Schule abzuholen. Er bietet uns derweil Walnüsse an, die in einem großen Korb neben uns lagern, eben für den Neffen gekauft, und die wir versuchen mit bloßen Händen zu knacken. Die beiden gebeugten Gestalten im Hintergrund sind Oma und Opa von seiner Frau. 84 und 86 Jahre alt.

  

  

Zhou Sheng selbst ist eingeheiratet. Han-Chinese aus Shezuan, ehemals Fabrikarbeiter, jetzt Maurer und Familienmitglied einer Bai-Familie in einem Bai-Dorf. Seit wann Han-Chinesen einfach so Bai-Chinesen heiraten können, weiß Zhou Sheng auch nicht. Für ihn war es aber kein Problem und überdies eine glücksbringende Gelegenheit. Mit 28 Jahren kam er über eine Heiratsvermittlung aus Dali hierhin. „Eigentlich ist eine Heirat in diesem Alter und für diese Gegend schon zu spät“, erklärt er. „Aber ich komme aus einer armen Familie. Mir blieb nichts anderes übrig.“

  

Die Elternstarben als er zwölf Jahre alt war und er und seine drei Schwestern mussten sich selbst ernähren. Ein hartes Leben. Besonders für den einzigen Sohn der Familie, denn dem oblag nicht nur die Verantwortung für das familiäre Auskommen, auch das Fortsetzen der Familienlinie. Das Heiratsarrangement war also nicht ganz sein freier Wille, aber er ist zufrieden, lebt er doch mit seiner Frau ein harmonisches Miteinander auf Augenhöhe und ist respektiert im Dorf. „Wir haben eine gute Nachbarschaft“, sagt er. „Nur das Essen ist anders hier als in meiner Heimat und den hiesigen Dialekt verstehe ich nicht.“ Aber das macht nichts, „da müssen sich die Menschen hier halt manchmal bemühen hochchinesisch zu sprechen“.

  

Und was die Familienlinie betrifft: „Ich habe damals mit meiner Frau gesprochen“, erzählter, „wir haben uns geeinigt. Unsere Tochter bekam meinen Familiennamen und unser Sohn den Namen meiner Frau. Da er in eine Bai-Familie eingeheiratet hat, durfte er schon damals zwei Kinder haben. So war die Aufteilung kein Problem. Ob nun die Tochter aber seinen Namen weitertragen wird… das wird sich zeigen. Viel wichtiger: Hauptsache, sie wird einmal studieren, wenn sie kann und will… Jedenfalls trägt Zhou Sheng Sorge dafür.

  


Er selbst hatte niemals eine Chance auf Bildung.  Aufgrund des frühen Todes der Eltern konnte ernur zwei Jahre die Schule besuchen. Er zeigt mit den Fingern eine Zwei. „Ich kann weder lesen noch schreiben“, sagt er. „Ich kenne nur ein paar einfache Zeichen.“ Und ohne Bildung ist es schwer, in der Gesellschaft aufzusteigen. Es ist eine einfache chinesische Rechnung, der alle Eltern dieses Landes nachjagen. Viel Bildung, viel Geld, gutes Leben. Warum er also das Schreiben und Lesen nie nachgeholt hat? Fragen wir. Er winkt ab. „Ich habe keine Zeit. Ich muss arbeiten, um das Haus bauen zu können.“ Aber so schlimm ist das nicht. Findet er. „Und jetzt bin ich auch zu alt.“ Er lacht.

  

„Das ist ein glücklicher Analphabet“, sagt Bo anerkennend zu mir, er freut über dessen frische, frohe Art und fügt hinzu: „Wenn man sein Leben einfach lebt und keine Ansprüche hat, ist man halt glücklich.“ Ich bin ebenfalls eingenommen von Zhou Shengs warmherzigen und offenem Wesen und sage zu ihm: „Könntest du aber schreiben, so wärest du bestimmt ein prima Dichter“, meine das ernst, denn Zhou Sheng strahlt eine unkonventionelle Empfindsamkeit aus. Hahaha.

  

Zhou Sheng findet meine Idee amüsant. Aber sie gefällt ihm. Als ein wenig später seine Frau mit dem Fisch in der Tasche zu uns stößt, sagt er stolz: „Ich soll schreiben, aber ich kann das nicht! Die Ausländerin sagt, ich wäre ein guter Schriftsteller.“ Seine Frau lacht und reicht uns ihre Hand, verschwindet aber schnell wieder im Inneren des neuen Hauses. „Das Leben ist zwar hart, aber ich bin glücklich“, sagt nun auch Zhou Sheng, „insbesondere seitdem ich meine zwei Kinder habe.“ Er bietet uns eine Zigarette an. Aber Bo sagt: „Ich rauche nicht. Kein Schlückchen.“

  

Ich nehme eine. Und schaue mich um. Die zwei alten Leute werkeln noch immer im Hintergrund.„Bis vor zwei Jahren haben wir alle zusammen in dem alten Haus gewohnt“, sagt Zhou Sheng. „Die Großeltern haben es vor zwanzig Jahren gebaut. Das Haus, das zuvor dort stand, war 80 Jahre alt.“ Wir staunen. Dieses marode Gebäude sollerst zwanzig Jahr alt sein? „Wenn man arm ist, bekommt man von der Regierung einen Zuschuss“, erklärt Zhou Sheng weiter. Doch nun, da das neue Haus steht, findet die Regierung nicht mehr, dass die Familie arm ist. „Deswegen gab es letztes Jahr statt einem Zuschuss nur zwei große Flaschen Speiseöl.“ Immerhin.

  

Doch das Leben bleibt teuer und die Schule für die Kinder kostet Geld. „Ich verdiene 300 Yuan am Tag“, sagt Zhou Shang, „und wir verkaufen Eier. Manche der Nachbarn richten Zimmer für Touristen ein, um ihre Kasse aufzubessern. Ich nicht, ich muss erstmal mein eigenes Haus einrichten.“ Und in dieses Haus dürfen wir nun gehen. Wir steigen den nackten Flur empor, gehen durch eine Wohnungstür und stehen plötzlich in einem gemütlich, hell erleuchteten Wohnzimmer. Sofa, großer Tisch, Fernsehen, Hängematte, Betten in den Nebenräumen. Das Nötigste ist schon da.

  

  

Wir fragen nach einem Badezimmer, möchten uns gerne die Hände waschen. Zhou Sheng nickt jedoch nur, schickt seinen Sohn los und als dieser mit einem Eimer mit frischem Wasser zurück ist, bekommen wir noch Seife und ein Handtuch dazu. Fließend Wasser ist Fehlanzeige. Und auch die Toilette ist nicht mehr als ein schlammiges Erdloch im sumpfigen Hof.

  

Bevor wir nun zum Abendessen kommen, möchte uns Zhou Sheng noch eines der wenigen alten Häuser dieses Dorfes zeigen. „Die meisten sind gegen Entschädigung abgerissen worden“, erzählt er und führt uns zu einem verfallenen und verlassenen Haus. Voller Freude und sicher zum Verwundern von Zhou Sheng, durchstöbern wir jeden Winkel, jeden Raum und finden allerlei achtlos zurück gelassene kleine Dinge. Wir fotografieren uns mit unserer Beute. Wir fotografieren auch den hübschen, immer lachenden Zhou Sheng. Aber er ziert sich. „Ich bin nicht schön“, sagt er entschuldigend.

  

Doch dann wird es so dunkel, dass das Dorf bald im Stockfinstern liegt und wir gehen den Fischessen. Leider liegt uns allen der verdorbene Ingwer vom Vortag immer noch quer, doch das wollen wir nicht sagen und wir geben uns Mühe, trotz unseres Unwohlseins möglichst viel zu essen. Die geistig verwirrte Mutter hockt stumm dabei. Die kleine Tochter kann es nicht leiden, fotografiert zu werden und ist etwas zickig und Zhou Sheng bekommt ständig Anrufe. Insgesamt jedoch ist es ein von Herzen geselliger Abend. Da Zhou Sheng selbst nicht in mein Reisebuch schreiben kann, macht seine Frau das für ihn.

  

Sie schreibt:„ Wir wünschen jedem Gesundheit, Glück und Freude. Ich hoffe, wenn ihr noch mal Zeit habt, kommt ihr vorbei.“

  

Und auch der Sohn will etwas schreiben: „Ihr habt sicherlich viele Orte und Länder besucht. Egal, wo ihr seid, vergesst uns nicht. Ich wünsche euch eine schöne Reise. Nochmal willkommen.“ 


Simone Harre, 1971 in Freiburg geboren, lebt als zweifache Mutter und prämierte Autorin in Brühl. Als sie 2014 zum ersten Mal nach China reist, erkennt sie, dass sie alles, was sie zuvor über die Volksrepublik gedacht hat, revidieren muss. Sie geht auf die Suche nach dem »wahren« China. Fünf Jahre lang spricht sie mit Chinesen aller Schichten und bekommt einen tiefen und seltenen Einblick in das Leben der Menschen hinter der Kulisse.

 

https://simoneharre.com/

 

Inzwischen gibt sie auch Glückskurse unter der Webseite:  www.simoneharre-Glückshelden.de