Volksliteratur –großartige Epen: Gesar und Manas
Die Volksliteratur ist eine der wichtigen Kategorien des immateriellen Kulturerbes Chinas, welche unter anderem Mythen, Epen, Sprichwörter, Volkslegenden und Volkserzählungen und vieles mehr umfasst. Sie bezieht sich auf Literatur, die mündlich vom Volk geschaffen, von Generation zu Generation ständig weitergegeben und gemeinsam überarbeitet wird. Die Volksliteratur ist tief im sozialen Leben der Menschen verwurzelt, spiegelt ihre Gedanken, Gefühle und künstlerischen Interessen wider und zeichnet gleichzeitig die Ursprünge, die Geschichte und die Entwicklung verschiedener ethnischer Gruppen auf, indem sie ihre einzigartigen Denkweisen, Ideologien und ästhetischen Merkmale verschmilzt und dadurch einen großen künstlerischen und kulturellen Wert besitzt. Zur Volksliteratur gehören die drei wichtigsten Heldenepen der ethnischen Minderheiten Chinas, das tibetische volkstümliche Gesang-Heldenepos „Gesar“, das kirgisische biographische Epos „Manas“ und das mongolische Heldenepos „Jianger“.
Im Jahr 2006 wurden die ersten beiden der drei Heldenepen, Gesar und Manas, vom Staatsrat der Volksrepublik China in die erste nationale Liste des immateriellen Kulturerbes Chinas aufgenommen. Im Jahr 2009 wurden die beiden Epen von der UNESCO in die Repräsentative Liste des immateriellen Kulturerbes der Menschheit aufgenommen. Im März 2018, in der Abschlussrede auf der ersten Tagung des XIII. Nationalen Volkskongresses, erwähnte der chinesische Staatspräsident Xi Jinping die Werke Gesar, Manas und Jianger und bezeichnete sie als „großartige Epen, die die Herzen der Menschen erschüttern“. Er wies darauf hin, dass die drei Epen eine der Quellen des Kulturguts der chinesischen Zivilisation sind, die die Bedeutung der Weiterentwicklung der Epen für das Gedeihen der chinesischen Kultur aufzeigen.
Gesar ist ein großartiges Heldenepos, das vom tibetischen Volk geschaffen wurde. Es entstand etwa vom Ende des vorchristlichen Jahrhunderts bis zum fünften oder sechsten Jahrhundert nach Christus. Das war eine historische Periode, wo sich die tibetische Clan-Gesellschaft aufzulösen begannen und sich die Feudalgesellschaft allmählich herausbildete. Die tibetische Gesellschaft befand sich in Aufruhr und das Volk litt unter Krieg und Entwurzelung. Mit mehr als 20 Millionen Wörtern ist Gesar das längste Epos, das jemals gesungen wurde. Die Geschichte, die in Reimen und Zeilen erzählt wird, handelt davon, wie König Gesar in die Unterwelt hinabsteigt, um die Lebenden zu retten. Er führt das Volk des Königreichs Ling an, um die Dämonen zu unterwerfen, ohne Angst vor Entbehrungen oder Gefahren zu haben, und vereint schließlich die verschiedenen Gruppen, um seine irdische Mission zu erfüllen und in das Himmelreich zurückzukehren. Das Thema der Bestrafung des Bösen und der Förderung des Guten, der Beseitigung des Leidens und die Schaffung von Glück für das Volk zieht sich wie ein roter Faden durch das ganze Epos, das das Leiden des Volkes widerspiegelt und ihre tief empfundenen Gefühle zum Ausdruck bringt und somit beim leidenden tibetischen Volk großen Anklang findet.
Gesar wird mündlich an die tibetischen, mongolischen, Tu-, Yugur-, Naxi- und Primi-Völker auf dem Qinghai-Tibet-Plateau Chinas weitergegeben. Gesar-Sänger, auf tibetisch „sgrung-mkhan“[1] genannt, also die Geschichtenerzähler, sind die direktesten Schöpfer, Übermittler und Erben des Epos. Die meisten von ihnen sind Analphabeten, verfügen jedoch über ein außergewöhnliches Gedächtnis und erzählerische Kreativität. Seit mehr als tausend Jahren wurde dieses lebendige, mündlich überlieferte Epos durch das unermüdliche Schaffen und den Gesang unzähliger Epos-Sänger von Generation zu Generation weitergegeben. Es ist erwähnenswert, dass Gesar bis heute immer noch weiterentwickelt wird und als Enzyklopädie der tibetischen Ökologie bezeichnet werden kann, da es das gesamte Wissen des tibetischen Volkes in verschiedenen Epochen über Geschichte, Gesellschaft, Natur, Wissenschaft, Religion, Moral, Sitten, Kultur und Kunst enthält und damit die soziale Entwicklung der tibetischen Nationalität in China widerspiegelt. Mit der erhabenen und weitreichenden Bedeutung wurde Gesar in viele ethnische Regionen übertragen. Sein Einfluss erstreckt sich auf die Mongolei, die burjatischen und kalmückischen Regionen Russlands sowie auf Indien, Pakistan, Nepal, Bhutan und andere Länder südlich des Himalaya. Es ist ein wichtiges Bindeglied zur Förderung des Austauschs und der Integration verschiedener ethnischer Gruppen. Mit hohem akademischen und historischen Forschungswert ist es als „Homerische Hymnen im Osten“ bekannt.
Manas ist ein großes gereimtes Heldenepos des kirgisischen Volkes, das im 9. und 10. Jahrhundert n. Chr. entstand. Es wurde hauptsächlich in der Autonomen Präfektur Kizilsu im Süden des Uigurischen Autonomen Gebietes Xinjiang und im kasachischen Autonomen Bezirk Ili im Norden des Uigurischen Autonomen Gebietes Xinjiang sowie in Kirgisistan, Kasachstan und Nordafghanistan in Zentralasien verbreitet. Das Epo ist in acht Teile gegliedert, die jeweils nach der Hauptfigur des jeweiligen Teils benannt sind, wobei Manas der allgemeine Name ist. Es schildert die Heldentaten des Helden Manas und seiner sieben Generationen von Nachkommen, die das kirgisische Volk im Kampf gegen die Ausplünderung und Versklavung durch fremde Eindringlinge und verschiedene böse Mächte führten und unermüdlich für Freiheit und ein glückliches Leben kämpften, was den zähen und unnachgiebigen Nationalcharakter des kirgisischen Volkes und seinen nationalen Geist der Einheit und des Unternehmungsgeistes widerspiegelt. Der Manas hat eine große Bandbreite an gesungenen Texten, einen großen Umfang, charakteristische Figuren und Wendungen in der Handlung.
Wie Gesar wird auch Manas mündlich überliefert. Seine Schöpfer und Übermittler heißen „Manastschi“,[2] nämlich Volkskünstler, die Manas als Beruf singen. Die Kirgisen glauben, dass die Gesangskünste der Manastschi vor allem „von den Geistern erträumt“ wurden. Jusup Mamay“,[3] der berühmteste Manastschi im Namen des „zeitgenössischen Homers“, erzählte eben von seinen drei Traumerfahrungen. Es heißt, dass der Held Manas in Träumen von Sängern die Sänger persönlich auswählte und ihnen die Aufgabe übertrug, das Epos zu singen, was zeigt, dass Manas die Verkörperung des kirgisischen Volkes und die Seele der kirgisischen Nation ist. Seit tausenden Jahren haben sich Generationen „Manastschis“ der Vervollkommnung von Manas gewidmet und die ganze nationale Weisheit und spirituelle Kraft des kirgisischen Volkes in das Epos einfließen lassen, was ihm einen großen literarischen, künstlerischen und ethnischen Forschungswert verleiht. Die UNESCO hat somit 1995 einst zum „Internationalen Manas-Jahr“ erklärt.
Gesar und Manas stellen die höchste Leistung der Volksliteratur der ethnischen Minderheit Chinas dar. Ihre mündlichen Überlieferungsform weist einen starken nomadischen Charakter auf, und im Vergleich zur schriftlichen Überlieferung ist das mündliche Epos flexibler, lebendiger und kreativer in Improvisation und Adaption. Da sich jedoch die Modernisierung beschleunigt und sich die Lebensweise der ethnischen Minderheiten Chinas ändern, schrumpft die Zahl der professionellen Künstler und das Publikum für die Epen. In den letzten Jahren ist eine Reihe alter Künstler nach der anderen verstorben, und das Erbe der Epen könnte möglicherweise vor dem Dilemma des „Todes der Menschen und dem damit einhergehenden Ende der Lieder“ stehen. Aus diesem Grund hat sich China intensiv um das immaterielle Kulturerbe des Epos bemüht, die Mittel aufgestockt, einschlägige Gesetze und Vorschriften erlassen und systematisch Rettungsausgrabungen, Sammlung und Zusammenstellung, Aufzeichnung und Schutz, Forschung sowie Übersetzung und Veröffentlichung von epischen Volkskünstlern, Liedern und schriftlichen Materialien durchgeführt. Gleichzeitig wurden an allen Orten, an denen Epen überliefert werden, Zentren für die Bewahrung des epischen Erbes eingerichtet, die den örtlichen Gegebenheiten entsprechen, und es wurden Anstrengungen unternommen, um junge Erben von Epen auszubilden, neue Wege für das Singen und Verbreiten von Epen zu finden, die Werbekanäle zu erweitern und Epen im Unterricht zu fördern, um das Interesse junger Menschen am Lernen und Forschen zu wecken. Gegenwärtig hat der Schutz der mündlich überlieferten Epen Chinas bemerkenswerte Ergebnisse erzielt: Die beiden lebenden Epen, Gesar und Manas, entwickeln sich kontinuierlich weiter und blühen immer mehr in einem faszinierendem Glanz.
Überarbeitet von Benjamin Ley
Quelle:
[1] cel.cssn.cn/ztpd/zgss/ssll/201007/t20100705_2762831.shtml
[2] https://www.novastan.org
[3] https://www.novastan.org