Volksliteratur(II) :
Chinas nationale repräsentative Projekte zum immateriellen Kulturerbe
China ist ein riesiges Land mit vielen ethnischen Gruppen, einer langen Geschichte und einer umfangreichen kulturellen Tradition. Als einzige Zivilisation der Welt, die nie unterbrochen wurde, ist die chinesische Zivilisation seit Tausenden von Jahren erhalten geblieben und hat einen Reichtum an Wissen angesammelt, der unzählige kulturelle Schätze hervorgebracht hat, von denen die Volksliteratur eine der schillerndsten Perlen ist. Die chinesische Volksliteratur umfasst Volksgeschichten, Volksopern, Volksmelodien, Mythen, Legenden, Liederbücher, Rätsel, Sprichwörter und vieles mehr, die allesamt klare multiethnische Merkmale aufweisen. Die Volksliteratur ist weit verbreitet, beeinflusst sich gegenseitig und ist eine der Quellen für den starken nationalen Zusammenhalt Chinas.
China misst dem Schutz und der Weitergabe der Volksliteratur große Bedeutung bei. Derzeit wurden insgesamt 167 Volksliteraturprojekte für die Aufnahme in die nationale repräsentative Liste des immateriellen Kulturerbes ausgewählt. Darunter befinden sich bekannte Volksliteratur aus der Han-Nationalität wie der Pangu-Mythos, die Liangzhu-Legende, die Qiren-Legende usw., aber auch zahlreiche Volksliteratur ethnischer Minderheiten wie die Liu Sanjie-Ballade der Zhuang-Nationalität, das Werk Jaxlil der Miao-Nationalität, Ulabun der Mandschu und die 18 Sprüche des tibetischen Hochzeitsbanketts. Man kann sagen, dass alle Volksliteraturen unvergleichliche Schätze darstellen. Infolge der begrenzten Länge des Artikels sind hier nur einige davon zu nennen, damit die Leser einen allgemeinen Einblick bekommen können.
1: Die Legende des kahlschwänzigen alten Li
Die Legende vom kahlschwänzigen alten Li ist in Shandong, den drei nordöstlichen Provinzen und den meisten nördlichen Küstengebieten weit verbreitet. Der Legende nach gab es in Shandong einen Bauer namens Li Han, der kräftig wie ein Ochse und begabt in Feldarbeiten war. Seine Frau hieß Taohong, und war klug, schön und tugendhaft. Nach 20 Jahren harter Entbehrungen wurde Tao Hong endlich schwanger, aber am Tag der Geburt brachte sie einen kleinen schwarzen Drachen zur Welt. Li Han war so erschrocken, dass er die Schaufel nahm und den Schwanz des kleinen schwarzen Drachens abhakte. Der kleine schwarze Drachen verabschiedete sich von seiner Mutter und flog voller Schmerzen weg. Wegen seines Nachnamens „Li“ wurde der kleine schwarze schwanzlose Drachen von allen „kahlschwänziger alter Li“ genannt. Eines Tag flog der kleine schwarze Drache zum Heilong-Fluss (Fluss des schwarzen Drachens), um die Menschen dort von dem bösen weißen Drachen zu befreien, der dort sein Unwesen trieb, den düsteren Wind bläst und den Sturm regnen lässt. Er schickte den Menschen in Shandong einen Traum und bat sie, Kalk in den Fluss zu werfen, wenn er sich weiß färbte, so dass der weiße Drache seine Augen nicht öffnen und nicht atmen konnte. Wenn der Fluss schwarz werden würde, sollten sie große Dampfbrötchen aus Shandong in den Fluss einwerfen, um ihre Kräfte wieder aufzufüllen. Auf diese Weise gelang es dem schwarzen Drachen, den weißen Drachen zu verjagen, und das Wetter am Heilong-Fluss beruhigte sich wieder. Von da an sollte jeder, der den Heilong-Fluss überqueren wollte, zuerst fragen, ob es Menschen aus Shandong gibt. Denn solange es Menschen aus Shandong gibt, kann jedes Schiff reibungslos fahren, egal wie stark der Wind bläst.
Seit hunderten Jahren haben sich tausende Menschen aus Shandong auf den Weg in den Nordosten gemacht. Sie überwanden Schwierigkeiten und arbeiteten über Generationen hinweg, um sich in der schwarzen Erde des Nordostchinas zu verwurzeln. Der kahlschwänzige alte Li, der Wind und Regen beherrschen und frei zwischen Nordostchina und Shandong bewegen kann, stellt das Heimweh der im Nordosten lebenden Shandonger dar. Der kahlschwänzige alte Li, der fleißig, einfach, tugendhaft, ritterlich und rechtschaffen ist, und das Böse bestraft und das Gute fördert, stellt ebenfalls den bildhaften Vertreter der Menschen in Shandong dar.
2.Die Geschichte von Xu Wenchang
Die Geschichte von Xu Wenchang ist eine der wichtigsten geistreichen Geschichten der Han-Nationalität, die zur Zeit der mittleren bis späten Ming-Dynastie entstand und in Shaoxing und anderen Gebieten südlich des Unterlaufes des Jangtse-Flusses weit verbreitet war. Die Geschichte basiert auf den Anekdoten der historischen Figur Xu Wenchang, nimmt aber auch viele andere Geschichten von gewitzten Charakteren auf, die von der Jugend der Hauptfigur bis zu seinem Sterbebett reichen. Es geht um die Bestrafung lokaler Tyrannen und böser Adliger, den Kampf gegen die japanische Invasoren, die Lösung schwieriger Probleme, aber auch um die bissige Satire auf den Feind und die Sorge um Freunde und einfache Menschen. Bis zum heutigen Tag entwickelt sich die Geschichte weiter und die Zahl der kleinen Geschichten von Xu Wenchang ist bereits auf mehr als 300 gestiegen. Diese Volkserzählung, die von Mund zu Mund weitergegeben wird, hat einen starken Shaoxing-Charakter und einen volkstümlichen Geschmack, und ist ein wichtiges Material für das Studium historischer Figuren und der regionalen Kultur.
Die Geschichte von Xu Wenchang:
Der Klebreiskuchen
(gleichklingend wie ,,das Herz punktieren)
Während der Wanli-Zeit der Ming-Dynastie wurde in Shaoxing ein neuer Klebreiskuchen-Laden eröffnet, den Xu Wenchang oft besuchte. Einmal bat ihn der Ladenbesitzer, ein Schild für den Laden schreiben. Xu Wenchang schrieb es mit Schwung und wies den Ladenbesitzer an, es nicht zu ändern. Überraschenderweise wurde der Laden sofort von Menschen überschwemmt, als das Schild aufgehängt wurde, weil der berühmte Xu Wenchang vergaß, einen Punkt in die Mitte des Schriftzeichens „Herz“ zu schreiben. Viele Schaulustige in der Stadt Shaoxing kamen, um sich dies anzusehen, und das Geschäft des Klebreiskuchen-Ladens florierte.
Doch als sich der Ruf des Ladens verbreitete, begann der Ladenbesitzer, minderwertige Materalien zu verwenden. Die Qualität des Gebäcks verschlechterte sich, und das Geschäft wurde immer schlechter. Eines Tages sagte ein Kunde zum Besitzer: „Wie können Sie es ein ‚Herz‘ nennen, wenn ihm ein Punkt fehlt? Kein Wunder, dass das Geschäft schlecht läuft!“ Also füllte der Besitzer diesen fehlenden Punkt mit schwarzem Lack aus. Aber das Geschäft verbesserte sich nicht, sondern wurde sogar noch schlechter. Der Besitzer verstand das Rätsel nicht, also ging er zu Xu Wenchang, um ihn um Rat zu bitten.
Xu Wenchang sagte: „Das ‚Herz‘ ohne Punkt ist auffällig und gibt den Leuten das Gefühl eines leeren Magens, so dass mehr Leute kommen, um den Klebreiskuchenas Gepäck zu essen. Wenn man einen Punkt dazu hinzufügt, wird es zu einem vollen Magen, und wer würde dann kommen und etwas essen wollen? Im Geschäftsleben darf man nicht zu gierig sein. Tausche den schwarzen Punkt auf dem ‚Herz‘ gegen einen roten aus und dein Geschäft wird florieren.“
Dem Ladenbesitzer wurde plötzlich alles klar. Er folgte dem Rat von Xu Wenchang und sein Geschäft lief wieder so wie erhofft.
3.Die Legende von Panhu
Die Legende von Panhu entstand im Landkreis Luxi in der Provinz Hunan und verbreitete sich in den Gebieten der Miao-Nationalität im westlichen Hunan und dem Nordosten Guizhous sowie im Südosten Chinas. Es wird gesagt, dass in der Vorzeit eine alte Frau an einer Ohrenentzündung litt. Der Arzt holte einen kokongroßen, hartschaligen Insekt aus ihrem Ohr, legte es in eine Kalebasse und deckte ihn mit einem Teller ab. Bald darauf verwandelte sich der hartschalige Insekt in einen Hund mit fünf verschiedenfarbigen Mustern. Der Arzt nannte den Hund „Panhu“. Später kämpfte der König von Gao Xin, Di Ku, gegen das Königreich Quan Rong, wurde aber wiederholt besiegt, weil der General Wu des Königreiches Quan Rong sehr mächtig war. Der König von Gao Xin versprach, dass derjenige, der den Kopf von General Wu erlangen konnte, die Prinzessin „Xin Nü“ als Frau bekommen würde und zudem mit Geld und Land belohnt werden würde. Eines Tages kam ein Hund mit einem Kopf eines Mannes im Maul in den Palast. Dieser Hund war Panhu. Da der König von Gaoxin sah, dass die verdienstvolle Person ein Hund war, weigerte er sich, Xin Nü zu verheiraten, weil die Tochter des Kaisers keinen Hund heiraten konnte. Xin Nü drückte jedoch ihre Bereitschaft aus, das Versprechen einzulösen. Der König von Gao Xin wurde wütend und ließ Xin Nü in einen verlassenen Palast bringen. In diesem Moment kam Panhu. Er flog aus dem Fenster mit Xin Nü auf dem Rücken und brachte sie zu einer Höhle auf einer Klippe am Westufer des Yuan-Flusses in Luxi. Dort schufen die beiden ein Heim und zogen ihre sechs Söhne und sechs Töchter auf. Später wurde Panhu unglücklicherweise ermordet und seine Leiche in den Yuan-Fluss geworfen. Xin Nü suchte unter Tränen die Leiche ihres Mannes entlang des Yuan-Flusses und starb vor Erschöpfung. Sie verwandelte sich in einen Stein am Ufer des Yuan-Flusses, der später „Xin Nü-Stein“ genannt wurde. Die Menschen der Miao-Nationalität im westlichen Hunan respektieren Xin Nü als „göttliche Mutter“ und Panhu als „göttlichen Vater“, und errichteten „Xin Nü-Kloster“ und „Panhu-Tempel“ zum Opfer.
Die Legende von Panhu entstand in der Übergangszeit von der matriarchalischen Gesellschaft zur patriarchalischen Gesellschaft und hat ihre Wurzeln in der Fischerei- und Jagdwirtschaft der Vorfahren der Miao-Nationalität sowie in der primitiven Agrargesellschaft. Sie ist die reichhaltigste und komplexeste ethnische Legende der Miao-Nationalität aus alten Zeiten, die für die Forschung zu der Sitte, Geschichte und Kultur der Miao-Nationalität von großer Bedeutung ist.
4.Die Geschichte von Balagencang
Die Geschichte von Balagencang ist eine große Gruppe satirischer und humorvoller mongolischer Volksgeschichten mit Balagencang als Hauptfigur. Sie ist weit verbreitet in der Inneren Mongolei, insbesondere im Horqin-Grasland. Der Name „Balagencang“ ist der Name einer Person, und bedeutet auf Mongolisch „reichhaltige Sprache“ und „Schatzkammer der Weisheit“. Er ist eine fiktive Figur, die von der mongolischen Nationalität nach ihren Idealen geschaffen wurde. Er ist der Sprecher des armen Volkes und setzt sich überall für Gerechtigkeit für die gedemütigten und schikanierten armen Hirten ein, und kämpft unermüdlich gegen die grausamen, gewalttätigen, korrupten und dekadenten klösterlichen Machthaber sowie gegen religiösen Aberglauben und feudale Ethik. Er wurde von Bürokraten, reichen Hirten, Kaufleuten und großen Lamas als „Schurke“ und „Lügner“ verfolgt, aber er kann diese bösen Mächte immer mit seiner Weisheit besiegen. Mit Hilfe der geistreichen und ironischen Sprache von Balagencang offenbart die Geschichte die verbitterte Unzufriedenheit der arbeitenden Menschen und ihre Sehnsucht nach einem besseren Leben. Sie ist ein unschätzbarer kultureller Schatz der mongolischen Nationalität.
Die chinesische Volksliteratur weist starke ethnische und lokale Merkmale auf. Sie drückt die Gedanken, Gefühle und Ideale der einheimischen Bevölkerung präzise aus, die künstlerisch, literarisch und humanistisch ist und es verdient, von uns allen verstanden und ungehindert weitergegeben zu werden. Nur auf diese Weise kann die chinesische Volksliteratur eine dauerhafte Vitalität haben.
Überarbeitet von Benjamin Ley