„Krankheit ist ein Angriff. Der Patient ist die Hauptperson. Der Arzt ist der General. Er stellt die Waffen.“ So sieht es Zheng Donghai. Er ist Profi und TCM-Arzt an einer TCM-Klinik. Wir treffen uns im Büro seines Vaters… der Apfel fällt nicht weit vom Stamm.
Wie ist der Puls? Schnell, holpernd, rhythmisch? Glänzen die Augen? Wie ist die Haltung, die Stimme? Verrät sie etwas über Yin oder Yang? Ist sie laut oder leise? Wie ist das Antlitz? Vielleicht fahl? Und die Ohren? Die Struktur der Meridiane spiegeln sich hier. Was kann man erkennen? Dann das Blut? Ist es träge? Was sagt die Zunge? Ja, die Zunge… sie ist Zheng Donghais Spezialgebiet. Kalt, warm, feucht, trocken? Weißlich, gräulich, rot, belegt oder nicht?
„Die Zunge ist deswegen so besonders“, erklärt Zheng Donghai, „weil sie das einzig innere Organ ist, das man beobachten kann“ Er kennt sich aus, denn tägliches Sehen, Riechen, Fragen und Forschen am menschlichen Körper ist sein Job. Donghai ist TCM-Arzt an einer TCM-Klinik im Osten Pekings und sein Fach- und Forschungsgebiet ist der Darmkrebs. Donghais Vater ist der Präsident der Klinik. Donghai, es liegt nahe, ist Vizepräsident.
Wir treffen uns im Büro des Vaters. Dort ist es imposant. Dicker Sessel hinter Tisch. Chinas Regierungschef gebührend präsentabel auf der Arbeitsplatte. Große Zertifikate an den Wänden und viele viele Medizinbücher in Regalen hinter Glas. Der Vater ist, will man meinen, herrschaftlich, der Sohn dagegen wirkt sehr zart und bescheiden mit auch zurückhaltender Stimme, aber zu Ehren des Vaters sehr fleißig.
Die Klinik derzeit hat Glück, erzählt Donghai froh. Für die Darmkrebsforschung hat die Regierung auf vier Jahre eine Subvention von 20 Millionen Yuan veranschlagt. Das ist ganz schön viel, wenn man bedenkt, dass die westliche Medizin bei weitem in China dominiert und auch die Mehrheit der Patienten nach der TCM eher als letzter Strohhalm greifen. Dabei, weiß Donghai, wäre sie eine so sinnvolle Ergänzung. Das zu beweisen, ist sein Ziel. Er hofft, dass die kommenden vier Jahre gute Forschungsergebnisse bringen werden und die östliche und westliche Medizin künftig näher zusammenrücken können. Denn: „Ein operativ entfernter Tumor und die Chemo killen nur die Spitze des Eisberges.“ Dann kommt der Krebs wieder.
„Die TCM kann zwar das auch nicht verhindern, aber das Risiko deutlich senken.“ Donghai zeigt uns Statistiken, die das hoffnungsvoll belegen. „Krebs ist ein Zeichen dafür, dass der ganze Körper schon nicht mehr funktioniert“, sagt Donghai. „Das Chi ist verstopft.“ Schuld daran können viele verschiedene Faktoren sein, manchmal auch alle gleichzeitig: Schlechte Ernährung, Vergiftung, Aufregung, Depression… Und ist er erstmal da, muss er im ersten Schritt mittels westlicher Medizin bekämpft werden. Mit Chemotherapie oder Operation oder beidem. Das findet auch Donghai sinnvoll.
Doch dann? Der Arzt muss zur richtigen Zeit dem Patienten die richtigen Waffen an die Hand geben, findet er. „Denn der Arzt ist der General.“ Er ist der Künstler der Kriegsführung und ihm ist die TCM als Nachbehandlung eine Wunderwaffe, die unbedingt immer zum Einsatz kommen sollte. „Mit der TCM können wir den Körper danach entgiften, wir bauen das Blut auf und bringen das Chi wieder zum Fließen.“ Die Heilerfolge steigen enorm. In Zahlen ausgedrückt heißt das: „Konventionell westlich behandelt erleiden 80 % der Betroffenen einen Rückfall, mit der TCM nachbehandelt sind es nur noch 50 %.“
Dabei kommt es allerdings nicht nur auf die Kompetenz des Arztes an, betont Donghai, auch der Patient selbst ist gefragt. „Viele Patienten geben sich bei dem Verkünden der Diagnose direkt auf. Sie werden depressiv“, erklärt Donghai. „Leider bringt sie letztlich genau das um.“ Die positive Lebenseinstellung ist also entscheidend. „Wer an sich glaubt, Unterstützung von den Verwandten erhält, hat deutlich höhere Heilungschancen.“ Auch darüber gibt es Statistiken. Manchmal, um diese Wahrheit zu untermauern, lädt Donghai Überlebende ein, sie sollen seinen Patienten Mut machen.
„Und Patienten, welche die fünf Risikorückfalljahre überstanden haben, ohne erneut zu erkranken, bekommen eine Geburtstagsparty.“
Donghai sagt: „Wenn ich das erlebe oder wenn mich Patienten anrufen und mir berichten, dass es ihnen wieder besser geht, dann bin ich wirklich glücklich.“ Als Arzt steht er in einer aktiven Beziehung zum Patienten und jeder Patient ist anders. Das macht das Besondere der TCM aus. Die Anamnese, die es in der westlichen Medizin nicht gibt. Jeder Körper reagiert anders, braucht anderes. Dennoch hat er ein Standartmedikament zur Unterstützung des Heilprozesses entwickelt. Er zeigt es uns.
Aber es gibt noch ein Problem: Die westliche Medizin wird von der Kasse übernommen, die TCM-Behandlung nur zum Teil. Die Kosten belaufen sich auf 3000-5000 Yuan im Monat. Donghai, der im Schnitt morgens 60 Patienten behandelt, sagt: „Das ist ein Problem, denn die meisten Patienten verfügen nur über ein mittleres Einkommen.“ Das Krankenhaus, in dem wir uns befinden, das „Beijing Oncology Hospital of Weida TCM“, ist außerdem kein öffentliches Krankenhaus, sondern ein Joint Venture. Zur Behandlung und Forschung kooperiert es auch mit anderen Kliniken. Die Investoren beteiligen sich aus einem Krankenhaus in Hongkong.
Donghai, geboren in Fuzhou, ist Vater zweier Kinder, drei und vierzehn Jahre alt. Er selbst ist zufrieden mit seinem Einkommen. „Aber junge Ärzte und Krankenschwestern verdienen nicht gut.“ Er kann es daher nur begrüßen, dass Peking gerade eine medizinische Reform durchführt. Sein tägliches Glück sind seine Erfolge als Mediziner, gesundende Patienten, klar: Und sein Unglück? Hat Donghai vor etwas Angst? „Ja“, gesteht er, „ich habe vor vielem Angst.“ Angst davor, einen Kredit nicht zurückzahlen zu können. Angst vor dem Tod seiner alten Lehrmeister. Oder Angst vor Telefonaten, in denen ihm mitgeteilt wird, dass ein Patient, den er auf den Weg zu bringen versuchte, nun doch gestorben sei.
„Im alten China gab es eine Formulierung: „Es sterben mehr Patienten an der Medizin denn an Krankheit!“
Das Misstrauen gegenüber der Leistung der Ärzte war schon immer so groß wie deren Verantwortung. Stirbt der Patient, ist es die Niederlage des Arztes. Er hat sich keine Mühe gegeben. So einer will Donghai nicht sein. Er möchte die Quote der Überlebenden erhöhen. Sein Vater wird nichts anderes von ihm erwarten. In dessen großem, schwarzem Sessel hinter massivem Tisch hat Donghai nun für ein Foto Platz genommen. Zart und schmal in einem weißen Ärztekittel. Zheng Donghai, Sohn und General, der gewinnen will.
Simone Harre, 1971 in Freiburg geboren, lebt als zweifache Mutter und prämierte Autorin in Brühl. Als sie 2014 zum ersten Mal nach China reist, erkennt sie, dass sie alles, was sie zuvor über die Volksrepublik gedacht hat, revidieren muss. Sie geht auf die Suche nach dem »wahren« China. Fünf Jahre lang spricht sie mit Chinesen aller Schichten und bekommt einen tiefen und seltenen Einblick in das Leben der Menschen hinter der Kulisse.
https://simoneharre.com/
Inzwischen gibt sie auch Glückskurse unter der Webseite: www.simoneharre-Glückshelden.de